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The Official Website of Andrew Vachss

 

Andrew Vachss
Autobiographischer Essay
Zeitgenössische Autoren, Band 214, 2003


Ich kam spät zum Schreiben, und noch viel länger dauerte es, bis meine Bücher veröffentlicht wurden. Doch das Lesen war so unentwirrbar mit den komplexen Fäden meiner Kindheit verwoben, dass es hätte genetisch kodiert sein können

Meine Mutter war eine jung verheiratete Frau, deren Mann Tausende von Meilen entfernt war, auf den Schlachtfeldern Europas. Sie las mir täglich vor, ohne Unterlass. Und es war der Vater meiner Mutter, mein geliebter Großvater, der mich in das magische Königreich an der Fifth Avenue einführte, jenen riesigen Monolithen, der von Steinlöwen bewacht wurde.

Meine Eltern waren nicht im üblichen Sinne ehrgeizig, aber ihre Träume für ihre Kinder waren grenzenlos. Während meine Mutter mir vorlas, wusste sie, dass der Tag kommen würde, an dem ich ihr vorlesen würde. Und als mein Großvater Nathan mich in die Bibliothek mitnahm, wurde er nicht müde mir zu erzählen, dass eines Tages Menschen die Bücher lesen würden, die ich geschrieben hätte.

Ich habe den Vater meines Vaters nie getroffen. Er war Berufssoldat, der sein Leben seinem Land gegeben hatte, als mein Vater noch ein Kind war. Sein Vater, der Kriegsheld, wurde durch den neuen Freund meiner Großmutter „ersetzt", und das Leben meines Vaters veränderte sich für immer.

Er war noch ein Teenager, als er beim Football Blocking Back in einer Single Wing Offense wurde – grob gesagt das Äquivalent einer menschlichen Bowlingkugel gegen sehr feindselige Kegel. In jenen Tagen bestand eine Football-"Ausrüstung" aus einem dünnen Lederhelm und rudimentären „Polstern". Aber die Aussicht auf körperliche Verletzungen hatte nichts Beängstigendes für meinen Vater. Er hatte Schlimmeres gesehen. In seinem eigenen Zuhause.

The author's parents, Geraldine and Bernard Vachss, c.1950s
Die Eltern des Autors, Geraldine und Bernard Vachss, in den.1950ern

Mein Vater war ein so begabter Athlet, dass er ein College-Stipendium erhielt. Er spielte für die NYU, zu jener Zeit eine Macht im Football. Der innerstädtische Rivale der NYU war die Fordham University, die auf nationaler Eben spielte und berühmt war für ihre „Seven Blocks of Granite“ - Reihe, deren Halt ein Verteidiger namens Vince Lombardi war. 1936 verlor Fordham nur ein Spiel, einen Klassiker, der vor einer riesigen Menge im Yankee Stadion ausgetragen wurde. In Vorbereitung dieses heroischen Wettkampfs trug der Nachwuchskader der NYU Fordham-Trikots und „spielte" wochenlang dieses Team. Mein siebzehn Jahre alter Vater war Mitglied dieses Kaders, (zu jener Zeit war es Studienanfängern nicht erlaubt, Universitäts-Football zu spielen). Ich habe immer noch den silbernen Football, mit dem mein Vater für seinen Beitrag zum größten Sieg der NYU ausgezeichnet worden war.

Als der zweite Weltkrieg kam, folgte mein Vater der Einberufung. Und als der Panzer meines Dad – nach meiner Mutter auf „Geraldine Phoebe" getauft – die Mauern von Buchenwald durchbrach, hielt er ein Versprechen gegenüber seinem Vater, das ich erst viele Jahre später verstehen würde.

Mein Vater konnte nicht wissen, ob er jemals nach Hause kommen würde, um seinen neugeborenen Sohn zu sehen. Also schrieb er mir Briefe. Meine Mutter hob sie für mich auf. Ich habe sie noch. Und hin und wieder, wenn es dunkel wird in meinem Leben, lese ich sie.

Mein Vater ließ viele seiner Träume auf dem Schlachtfeld zurück. Als er aus Übersee zurückkehrte, war es ihm ebenso unmöglich seine Ausbildung zu beenden wie seine Familie von seinem G.I.-Lohn zu versorgen.

Ökonomischer Druck war nichts Neues für meinen Vater als ein Kind der Depression. Sein Vorkriegs-Stipendium hatte ihm das Schulgeld bezahlt, sorgte aber nicht für den Lebensunterhalt. Für diesen spielte er semi-professionell Football mit den Patterson (NJ) Panthers und den City Island (NY) Skippers. Jahre später fragte ich ihn, ob seine College-Trainer wussten, dass er sonntags für Geld spielte. Schließlich war es derselbe Verstoß, wegen dem man Jim Thorpe, Amerikas größtem Athleten aller Zeiten, den Amateurstatus (und die olympischen Medaillen) entzogen hatte. „Der Trainer hat ebenfalls Sonntags gespielt, Sohn" antwortete er ohne eine Spur von Zynismus in seiner Stimme.

Die einzige Person, die ich in meinem Leben getroffen habe, die Schläger mehr hasste als mein Vater, war meine Mutter. Jahrzehnte bevor der Begriff „Kindesmisshandlung" Teil des amerikanischen Bewusstsein wurde, war es ein schwerer Fehler, in Gegenwart meiner Eltern einem Kind weh zu tun. Mein Vater war ein riesiger, kraftvoller Mann, der in der Lage war, sich einen Widersacher so vorzunehmen wie ein Zimmermann einen Nagel; doch jeder in der Nachbarschaft wusste, dass meine Mutter noch gefährlicher war. Unter all den Eigenschaften, die meine Eltern in mir zu verankern suchten, bildete der Abscheu vor Schlägern immer ein Fundament.


Als Kind wollte ich Wissenschaftler werden. In den Leihbüchern, die ich endlos mit nach Hause brachte, las ich wie Wissenschaftler Krankheiten heilten, Leben retteten, die Welt veränderten. Mein Vater durchstöberte Pfandleihen, um für mich einen festen Vorrat an Phiolen, Reagenzgläsern und Vergrößerungsgläsern zu finden ... eines besonderen Tages sogar ein Mikroskop. Wir lebten niemals in geräumigen Wohnungen, aber irgendwie fand sich immer Platz für meine „Laboratorien."

Andrew as a baby, with his mother
Andrew als Baby mit seiner Mutter

Eines Tages fand ich ein leeres Grundstück, das jeder Menge Schwarzer Witwen ein Zuhause bot. Ich erklärte meiner Mutter, dass die Männchen selten zu sehen waren, weil sie so ein kurzes Leben hatten ... und dass ich selbst eines sehen musste. Nicht als Fotografie oder als aufgespießtes Präparat, sondern in echt. Sie erbleichte, als ich ihr erzählte, dass der einzige sichere Weg wäre, ihre Eier zu finden, ihnen zu erlauben zu schlüpfen, und dann die Männchen zu isolieren, bevor sie sich paaren ... und sterben konnten. 

Aber alles, was sie sagte, war „Sei vorsichtig ..." ein Ratschlag, den ich seither so gut wie nie beherzigt habe.

Ich verbrachte Stunden damit, die Eier zu sammeln und dabei ihre tödlichen Eltern zu meiden. Und noch viel mehr damit, meine „Befunde" zu dokumentieren und Notizbuch für Notizbuch mit dem zu füllen, was, da war ich sicher, eines Tages unschätzbare Informationen darstellen würde.

Wenn ich zurückschaue, hätte ich wohl fortfahren können, Wissenschaftler zu werden, wären da nicht zwei Dinge gewesen: Das eine waren Bücher.

Keine Bibliotheksbücher. Nicht mehr. Es gab einige Bücher, die ich so oft gelesen und wieder gelesen hatte, dass ich sie einfach besitzen musste, damit ich sie jedes Mal, wenn ich sie brauchte, zur Hand hatte. Damals lernte ich eine Schatztruhe kennen: gebrauchte Bücher und die Läden, die sie verkauften. Seinerzeit konnte man sich mit einem Dollar einen beträchtlichen Vorrat an gebrauchten Taschenbüchern verschaffen, und ich hatte damals schon längst Möglichkeiten entdeckt, den einen oder anderen Dollar zu machen.

Es war einfach diese Art von Nachbarschaft. Belle war eine schöne, kräftige junge Frau, die im Süßwarenladen hinter dem Tresen arbeitete. Sie flirtete mit ihren Kunden und winkte mir zu, wenn sie die Trinkgelder einsackte. Manchmal gab sie mir ein paar Nickel und sagte, ich brächte ihr Glück. Und sie war immer für eine Gratis-Limonade gut, jedes Mal, wenn ich ihr erzählte, was ich in der „Schule" gelernt hatte (genau genommen durch das Lesen).

Alte Männer in weißen Hemden und Anzughosen saßen um kleine Tische vor Ladenfronten, deren Scheiben zu schmierig waren, um hinein zu sehen. Einige von ihnen ließen immer Münzen in meine Taschen gleiten, nachdem sie mich baten, aus dem Gedächtnis eine lange Zahlenfolge aufzusagen, die sie mir tags zuvor genannt hatten. Sie sagten voraus, dass ich eines Tages „richtig Geld" machen würde mit dieser Gabe, mir etwas ins Gedächtnis zu rufen.

Mein Mutter protestierte immer, wenn eine der Frauen aus der Nachbarschaft mir in die Backe kniff, mir sagte, ich würde eines Tages viele Herzen brechen, und mir -„kauf dir was, Kleiner“- einen Dime gaben. Aber sie gab immer nach.

Und sie stritt nie, wenn ihr Vater sagte „Ein junger Mann braucht ein bisschen Geld in der Tasche".

Natürlich tat niemand so etwas je vor meinem Vater. Für meinen Vater gehörte einem etwas nicht, wenn man es nicht selbst verdient hatte, Ende der Diskussion.

Immer wollten Leute kleine Besorgungen gemacht haben. Ich tat, worum ich gebeten wurde, aus Höflichkeit, die sie nie zu kommentieren vergaßen. Aber es kam selten vor, dass man nicht zu mir sagte „Behalte das Wechselgeld."

Ich sammelte nie Baseball-Karten oder Comics – meine angehäuften Ersparnisse wurden immer für Bücher ausgegeben. Einige dieser Bücher wühlten mich dermaßen tief auf, dass die Wissenschaft ihre Macht über mich verlor. Weil sie die Antworten nicht bereit hielt, nach denen ich mich so heftig zu sehnen begonnen hatte.

With father, Washington Square Park
Mit Vater am Washington Square Park

Scottsboro Boy schockte mich. Eine schonungslose, nüchterne Darstellung des legalen Lynchmords an einer Gruppe von schwarzen Teenagern im Alabama der Depressionszeit unter der Scheinanklage einer Gruppenvergewaltigung, geschrieben von dem angeblichen Rädelsführer, Heywood Patterson, während er nach einem Gefängnisausbruch noch auf der Flucht vor der „Justiz" war. Zwanghaft las ich es wieder und wieder, bis ich schließlich meinen Vater fragte, ob es eine wahre Geschichte sei. Traurig sagte er, dass sie das sei.

Ich begann zu begreifen, dass Wissenschaft neutral war. Sie konnte zum Töten wie auch zum Heilen benutzt werden. Und es war nicht die Wissenschaft, sondern die Menschen, die die Entscheidungen trafen.

Cell 2455 Death Row war die Autobiographie von Caryl Chessman, einem nach eigenem Eingeständnis Berufskriminellen, der für ein Verbrechen zum Tode verurteilt worden war, von dem er behauptete, es nicht begangen zu haben. Ich kannte junge Männer wie ihn. Ich wuchs mit ihnen auf, hatte sie aber nie mit der gleichen Intensität beobachtet, die ich Schwarzen Witwen oder Gottesanbeterinnen oder Monarchs-Schmetterlingen entgegengebracht hatte ... ich nahm sie einfach als Teil der Wirklichkeit.

Ich musste die Wahrheit wissen. Ich selbst, nicht aus zweiter Hand. Ich schrieb einen Brief an Caryl Chessman. Der Aufseher von San Quentin schickte mir eine höfliche Mitteilung zurück, dass es Insassen nicht erlaubt war, mit Minderjährigen zu korrespondieren. Caryl Chessman wurde in dem Jahr hingerichtet, als ich meinen High School-Abschluss machte. Ich frage mich, ob mein Brief ihn je erreicht hatte ... und ob er verstand, was ich wissen musste.

Ich fuhr fort zu lesen. Emmit Till. Charles Starkweather. Leopold und Loeb. Für mich war Rebel Without A Cause kein James Dean-Film, sondern das Bemühen eines wahrheitssuchenden Psychologen, in das Gehirn eines Psychopathen einzudringen. Ich versuchte kritisch zu lesen. Viele der Darstellungen - die Lindbergh-Entführung, der Sacco-Vanzetti-Prozess, selbst die Jagd nach Jack The Ripper – klangen einfach nicht wahr.

Nachdem ich das am Essenstisch erklärte, fand mein Vater für mich eine Ausgabe von Clarence Darrows epischem Werk Attorney for the Damned. Eine unausgesprochene Botschaft, dass die Antwort auf Ungerechtigkeit nicht in Rhetorik besteht oder in Debatten. Es läuft immer auf einen Kampf hinaus.

Ich erfuhr, dass es eine Wissenschaft namens „Kriminologie" gab. Ich las jedes Buch mit diesem magischen Wort auf dem Umschlag. Und kam widerstrebend zu dem Schluss, dass die „Wissenschaft" immer darauf hinauszulaufen schien, dass verschiedene Leute dieselben Daten interpretierten, um darin verschiedene „Fakten" zu finden.

Wissenschaft war nicht die Antwort auf Ungerechtigkeit. Sie war kein Weg, sie war ein Werkzeug.


Doch ich stolperte ohne Führung umher. Alle elterliche Unterstützung auf der Welt half nicht.

Und zu der Zeit, als ich ein Teenager war, änderte sich meine Haltung gegenüber der Erziehung. Ich habe meine Liebe zum Wissen niemals verloren, aber die High School tötete jeden Glauben in mir ab, dass ich meinen Weg mit den Schulbüchern, die wir verwendeten, finden würde ... oder den Lehrern, die lediglich prüften, wie gut ich sie auswendig gelernt hatte.

Ich war so unbeteiligt, dass mir die Schule vorkam als müsste ich mich durch kalten, farblosen Wackelpudding kämpfen. Ich verbrachte immer weniger Zeit im Klassenraum. Meine Schulbücher verließen nie den Spind. Meine Noten fielen so rasch wie mein Interesse. Ich fand meine treuesten, tiefsten Freunde außerhalb der rigiden Grenzen der Schule. Ich trat keinen High School Clubs bei, trieb keinen Sport, ging nicht zum Abschlussball.

Ich verbrachte die nächsten paar Jahre als Passagier in einem schnellen Wagen, Testosteron am Steuer.

Ich tat routinemäßig dumme, riskante Dinge. Gewalttaten geschahen. Ich verlor Freunde, an welche Dunkelheit auch immer, die sie rief: Drogen, Alkohol, Gefängnis, Selbstmord. Die jungen Männer meines Alters, die über ihre Zukunft nachdachten, waren nicht die, mit denen ich Zeit verbrachte. Wir warteten alle auf was auch immer als Nächstes käme ... aber ohne jede Begeisterung.

The author as a child, Manhattan, circa 1940s
Der Autor als Kind, Manhattan in den 40ern

Im Grunde meines Herzens war ich immer noch Wissenschaftler. Ich fragte weiterhin „Warum?" Ich dachte zurück an Freunde aus der Kindheit, die zuhause so regelmäßig geschlagen wurden, dass sie diese Erfahrung in ihre Realität integriert hatten. An Mädchen, die mir von „komischen Onkeln" erzählten, als ob jede Familie einen hätte. An geflüsterte Geschichten von Dingen, die Menschen ihren eigenen Kindern antaten. Ich erinnerte mich an meinen besten Freund, einen hoch begabten Schüler, der vorzeitig von der Schule abging, um Soldat zu werden.

Die traurigsten Worte, die ich je gehört habe, waren, als er eines Nachts zu mir sagte: „Ich würde alles dafür geben, wenn ich deine Mutter hätte."

Auf seine Weise tat er es. Obwohl ich in Manhattan geboren bin, lebte meine Familie auf Long Island, als ich ein Teenager war. Von den vielen (nie gehaltenen) Versprechen, die die „Vorstädte" gaben, war eines, das mir gegenwärtig blieb, der Wunsch meiner Mutter nach einem „richtigen Garten." Ihre Lieblingsblumen waren immer Lilien gewesen. In einer Samstagnacht vor Muttertag brachen mein Kumpel und ich in eine große Gärtnerei ein und besorgten einen Lilienstock, mit Wurzeln und allem.

Wir brauchten Stunden, um ihn nach Hause zu schaffen. Keiner von uns hatte ein Auto, also mussten wir ihn in einer „geliehenen" Schubkarre transportieren, wobei wir uns abwechselten, einer schiebend, der andere die Beute aufrecht haltend. Wir arbeiteten die Nacht hindurch. Als meine Mutter es am nächsten Morgen sah, war der Ausdruck auf ihrem Gesicht das alles wert. Sogar später, als ich ihr erzählte, was sie vermutetet hatte, sagte sie nie ein Wort.

Dieses Zeichen der Anerkennung bedeutete meiner Mutter so viel. Und es bedeutete meinem Kindheitsfreund noch sehr viel mehr, Teil dieser Liebe zu sein.

Ich habe niemals einen High School-Abschluss-Ring bestellt. Mein Freund tat es. Als er zur Armee ging, gab er ihn mir.

Trotz der trüben Aussicht, die der „Berater" der High School auf meine Zukunftsaussichten warf, dachte ich mir schließlich einen Plan aus. 1959 boten die Marines ein Programm an, genannt das „Platoon Leader Corps" Wenn man es schaffte, die Batterie von Eingangstests zu bestehen, würden sie einem den Weg durchs College bezahlen, im Gegenzug für mit Training verbrachte Sommer und eine Mehrjahres-Verpflichtung – als Führungsoffizier - nach dem Abschluss.

Der Marines-Rekrutierer erzählte mir, dass ich der perfekte Kandidat wäre. "Du hast diese Hillbilly Statur, Sohn. Sehnig wie Stahldraht. Männer wie du geben die besten Marines ab."

Ich trainierte hart, bereitete mich vor. Endlose Situps, Stunden an der Reckstange, Laufen, Klettern am Tau, Boxen. Die eigentlichen Prüfungen waren leichter, als ich erwartet hatte. Ich war bereit zu gehen.

Als Kind erlitt ich eine Gesichtsverletzung an der „Domino-Maske" von Muskeln, welche die Augen umgibt und sie ausrichtet. Ich hatte mich seit langem an die geschädigte Tiefenwahrnehmung gewöhnt. Es war ein größeres Handicap, einen Baseball zu schlagen als Auto zu fahren, (weshalb ein einäugiger Mann einen Führerschein bekommen kann - obwohl ich immer darauf achtete, die Augenklappe abzunehmen, bevor ich den Test machte, für alle Fälle). Zu der Zeit, als ich High School-Absolvent war, dachte ich nicht mehr viel darüber nach. Wenn es daran ging, die Buchstabentafeln beim Augenarzt zu lesen, hatte mein eines gutes Auge die Aufgabe immer gut erledigt. Doch an dem Tag, an dem ich vereidigt werden sollte, forderte mich ein Navy-Arzt auf – vorher hatte ich nur Männer aus dem Marine-Korps gesehen – die Buchstabentafel zu lesen. „Sicher", sagte ich zuversichtlich ... bis er mich an einem der Instrumente Platz nehmen ließ, die wie ein Fernglas aussehen. Als er die linke Linse schloss, hätte ich ebenso gut blind sein können

Ich wurde für wehruntauglich befunden, was meinen Plänen auf ein Entkommen vor der Fabrikarbeit (die ich im Sommer gemacht hatte) als lebenslanger Beschäftigung einen Körpertreffer versetzte. Daraufhin bewarb ich mich in letzter Minute an jedem College, das mir einfiel, nur mit den Ergebnissen der Eignungstests bewaffnet, die Zweifel an der Aussagekraft meiner lausigen Noten wecken sollten.

High-school graduation photo, 1960
High-school graduation photo, 1960

Kurz bevor das Semester begann wurde ich aufgenommen. Die Schule - damals die Western Reserve University, heute die Case-Western Reserve – war bereit, mir genug finanzielle Unterstützung zu gewähren, um mich beweisen zu lassen, dass ich tüchtig genug war, um über die Runden zu kommen.

Es stellte sich heraus, dass ich es sozusagen zur Hälfte war. Aufs College nicht vorbereitet, behandelte ich es wie die High School. Cleveland war nicht New York, aber ein Kartenspiel oder ein Billardzimmer oder eine Rennbahn zu finden war nicht schwer. Unweigerlich fiel ich durch einige Kurse. Aber, beinahe mir selbst zum Trotz, war ich gut genug in den anderen Kursen, so dass man es ein Unentschieden nennen könnte. Bei einer gleichen Anzahl von A's und F's kam ein Arbeiterklasse-C-Durchschnitt heraus – es ein „ehrenhaftes“ C zu nennen, wäre lachhaft.

Beim ersten Mal, als ich eine Hausarbeit zurückbekam, sah ich die nicht unvertraute Bitte suchen Sie mich auf"-Notiz auf dem Rand. Aber die Note war ein A.

Die Professorin, Toby Lelyfeld, war eine gut aussehende Frau mit harter Stimme. Sie lehrte mich zwei Dinge: Dass ich ein Schriftsteller werden könne, ein richtiger Schriftsteller, der wirklich Bücher veröffentlichen konnte. Und dass, wenn ich nicht meine Gewohnheiten änderte, meine Begabung verschwinden würde. Eine sehr umschreibende Form, um zu sagen: „Verwende es oder verschwende es!" Ich schloss einen Kompromiss. Ich änderte meine Arbeitsgewohnheiten in ihrer Klasse.

Ich verbrachte beträchtliche Zeit im Büro des Dekans, und das nicht, um meine Karriere als Schriftsteller zu besprechen. Nicht nur, dass ich ein armer Student war, ich war auch ein ziemlich armseliger Bürger, bezogen auf das, was sie die „Rolle als Anführer" bei einer Anzahl von Aktivitäten nannten, die die Schule keineswegs amüsant fand. Wenn ich zurückschaue, kann ich immer noch nicht verstehen, warum die Schule mich nicht einfach hinauswarf und es dabei bewenden ließ.

Stattdessen entschieden sie, dass ich meinem Potential gerecht werden würde, unter ihrer äußerst aktiven Teilnahme. Ich fand mich in einer Klasse für fortgeschrittenes kreatives Schreiben wieder, unterrichtet von einem brillanten, sarkastischen, viel bewunderten Campus-Idol, dem einzigartigen MacSawyer Hammond. In dieser Klasse las ich zum ersten Mal etwas, das ich geschrieben hatte, laut vor,  was mich eine Lektion lehrte, die ich nie vergessen würde: Wenn es daran geht, Dialoge zu schreiben, muss man ein Reporter sein, kein „Schöpfer". Ich hatte Ausdrücke wie zum Beispiel „Argot" gelesen, aber ich habe es nie jemanden laut sprechen hören. Wenn Kritiker heute bei meinen „unrealistischen" Dialogen ihre privilegierten Augenbrauen heben, sagen sie mir damit mehr über sich, als jeder Lebenslauf es je könnte.

Während ich in Fächern wie „Wachstum und Struktur des modernen Englisch" mit Wonne durchfiel, bekam ich Spitzennoten in Fortgeschrittenen-Kursen wie „Grundlagen der Fernsehproduktion" (wo ich mich dafür entschied, mein eigenes Drehbuch zu schreiben, anstatt eines zu adaptieren). Als es mehr als offenkundig wurde, dass ich die Anforderungen für Englisch als Hauptfach nicht erfüllen würde, fand der Dekan einen anderen Weg, um mich durchzuschleusen, indem er meinen Stundenplan mit Kursen in freier Rede füllte, die ich erst viele Jahre später zu schätzen wusste.

Meine College-Kumpels, selbst nicht gerade hoch motiviert, verbrachten eine Menge Zeit mit dem Versuch, mich zu motivieren. Einer, ein Visionär, der niemals auf seine eigenen Prophezeiungen hörte, tauchte gerade genug aus seinem permanenten Marihuana-Nebel hervor, um mir den Rat zu erteilen, die ganze Sache zu schmeißen, und „weiter dieses Zeug zu schreiben, Bruder." Eine andere, eine schöne schwarze Frau, die Eartha Kitt wie einen Bauerntrampel aussehen ließ, bat mich, einige meiner Kurzgeschichten „durchsehen" zu dürfen. Das Nächste, was ich mitbekam, war, dass sie in kleinen literarischen Magazinen veröffentlicht wurden.

Doch trotz jedermanns bester Bemühungen fühlte ich mich verloren. Schreiben sprach mich nicht an, wie die Schauspielerei oder Musik oder Kunst es bei anderen Studenten taten. Für mich war Schreiben wie Pool-Billard. Sicher, ich war ganz gut darin, aber ich gab mich keinen Illusionen hin, davon leben zu können.

Ich trieb dahin, war mir nur sicher, dass alles besser war, als einen Wäschereiwagen zu fahren, oder Möbel zu packen, oder Wagen zu überführen. Oder einer von dem Dutzend anderer Jobs, die ich annahm, um meinen Abschluss zu bezahlen.

Aber dann traf ich ein Mädchen, das sich das Schulgeld als Telefonistin in einem Altersheim verdiente. Eines Tages gingen wir hinunter zum Rathaus und heirateten. Als Nächstes brachen wir beide die Schule ab.

Ich fand Arbeit als Schuldeneintreiber. Mein Haupt-"Kunde" verlieh Geld an Leute, die nicht einmal in der Nähe einer Bank oder eines Kreditinstituts kamen. Er buchte auch Wetten und machte in „Warenhandel". Er hörte nie auf, mir zu erzählen, wie ein junger Mann mit meinem Köpfchen es in diesem Geschäft weit bringen konnte. Ich kam mir vor als wäre ich wieder ein Kind, das Gedächtniskunststücke für väterliche Gangster vorführte

Nach einer Weile besuchte ich einen Abendkurs. Diese Mal spielte ich nicht herum. Als die Noten hereinkamen, „fand" die Schule einmal mehr das Geld für meine Rückkehr.


Kurz bevor ich meinen Hochschulabschluss machte, besuchte ein Rekrutierer des amerikanischen Sozialdienstes den Campus. Als er mir über den großen Krieg zur Ausrottung der Syphilis in Amerika erzählte, fühlte ich mich, als sei ich wieder im Marine-Rekrutierungsbüro.

Nur dass sie mich diesmal nahmen. Mein offizieller Titel war "Programmrepräsentant", aber worum es sich handelte, war brutal einfach: wenn man erfuhr, dass bei jemandem Syphilis diagnostiziert worden war, ging man raus und "redete" mit ihm.

Man benötigte eine vollständige Liste mit allen sexuellen Kontakten während des "kritischen Zeitraums" - je nach Stadium der Syphilis von 90 Tagen bis zu einem Jahr - und dann wurde von einem erwartet, diese Leute zu finden, sie zu befragen und so weiterzumachen, bis die Infektionskette abriss.

Dieses Mal war mein Hintergrund von Vorteil. Ich war in Spielhöllen, Billardräumen, Nachtclubs, herumziehenden Arbeitercamps, Puffs, Gefängniszellen und vielen anderen Orten, die meinen Ermittler-Kollegen fremd waren, zu Hause. Vor allem beherrschte ich die Sprache.

Schließlich wurde ich zum Spezialisten in Fällen, in denen Infizierte es entweder ablehnten, zu kooperieren, oder ganz offensichtlich über das Ausmaß ihrer Aktivitäten logen. In jenen Tagen konnte eine widerspenstige "Quelle" alles von einer außerehelichen Affäre bis hin zu unnormaler Sexualität verbergen. Es bedurfte einiges an Überzeugungskünsten und ich wurde sehr gut darin.

Wenn man jemanden aufspüren möchte- selbst wenn man versucht, sein Leben retten - kann man nicht im Anzug herumlaufen und man kann kein Tonbandgerät mit sich herumtragen. Ich musste mich der Umgebung anpassen. Ich musste zuhören und ich musste lernen, eine Lüge genauso herauszuhören, wie ein Dirigent einen falschen Ton im Orchester heraushört.

Und ich fand die Leute auch, wobei ich manchmal mit so dürftigen Auskünften arbeitete wie: "Ich glaube, sie war blond, aber es war dunkel im Raum und ich konnte nicht allzu gut sehen. Ich erinnere mich daran, dass sie für Big Mary arbeitete, unten an der Water Street, und ich glaube, ihr Name war Brenda, aber ich war betrunken, und ..."

Ich liebte diesen Job. Ich liebte die Tatsache, dass es keine "Beaufsichtigung" gab, sobald ich das Büro für einen Fall verließ. Man konnte tagelang weg sein, schlafen wo immer die Spur einen hinführte, nicht aufhören bis man fand, wonach man suchte. Und dann begann man wieder von neuem.

Die Bezahlung war schlecht und ich wurde - ständig - daran erinnert, dass meine "unkonventionellen" Methoden mir in naher Zukunft sicher keine Beförderung bringen würden. Aber ich hatte mich noch nie so gut bei dem gefühlt, was ich mit meinem Leben anfing.

Ich schrieb, ständig. Ein Tagebuch, in dem ich jeden Fall, jede Beobachtung, jeden Kontakt, jede Lektion die ich lernte, festhielt. Aber ich betrachtete es nicht als Schreiben. Für mich war es der Aufbau meiner Ausrüstung.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich immer als ziemlich harten Kerl betrachtet. Ich wurde nicht in Privatschulen erzogen. Ich war so sicher, dass ich mich im Leben auskannte. Manche Dinge, die meine Kollegen schockierten, waren Dinge, die ich bereits seit meiner Kindheit kannte. Ich wusste, dass Leute sich gegenseitig aus allerlei Gründen allerlei hässliche Dinge antaten. Ich wusste von Kinderschändern, diesen eigenartigen Männern, die an Spielplätzen mit einer Tüte voller Süßigkeiten und Bösem im Herzen herumlungerten. Aber ich wusste nicht, dass Menschen Sex mit Babys hatten. Und bei diesem Job erfuhr ich die Wahrheit. Nicht nur mit irgendeinem Baby, mit ihren eigenen Babys.

Jahrzehnte vor der großen "Kontroverse" - gab es eine "Epidemie" von sexuellem Kindesmissbrauch in Amerika oder hat sich das Land auf eine "Hexenjagd" begeben, die durch einen Strom "falscher Anschuldigungen" angetrieben wurde?- hatte ich die Wahrheit selbst gesehen. Jeden Tag. Nicht die Statistik, nicht die "Grauzone", nicht die Debatten. Ein Kleinkind mit einem prolabierten Rektum, das vor Gonorrhöe troff, ist nicht dazu imstande, zu "phantasieren". Ein zwölf Jahre altes Mädchen, das ein Baby mit angeborener Syphilis - ein Vermächtnis ihres Vaters - gebärt, "erfindet" keine Geschichte.

Was mich schockte, war nicht nur die Grässlichkeit von Menschen, die ihre eigenen Opfer züchteten, sondern auch das soziopathische Anspruchsbewusstsein, das sie stets an den Tag legten. Ich erinnere mich noch an einen dieser räuberischen Degenerierten, der gerade darüber informiert worden war, dass sein Kind Syphilis hatte und dass er der Grund für die Infektion war. Als ich ihn mit den Folgen konfrontierte, sah er mich an und sagte, mit einer Stimme die vor Empörung bebte, "Das ist mein Kind."

Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, was er meinte. Und sogar noch länger um zu verstehen, dass dieser Mensch nicht einzigartig war. Er hatte Brüder - und Schwestern - in der ganzen Welt.

Ich war nicht mehr daran interessiert, Infektionen zu bekämpfen. Krankheiten, ebenso wie die Wissenschaft, sind neutral. Meine tödlichen Feinde waren es nicht. Und ich war es von dem Zeitpunkt an auch nicht mehr, nie mehr.

Der Weg, den meine Frau und ich bis dahin gegangen waren, trennte sich und wir trennten uns auch. Alles, was ich besaß, passte in einen Seesack. Ich warf ihn über meine Schulter und fuhr per Anhalter los.

Ich verschwendete einige Zeit mit Dummheiten, kam dann aber bald heim nach New York. Ich zog bei Kumpels aus meiner ehemaligen Nachbarschaft ein und suchte nach der nächsten Gelegenheit, mich zu behaupten. Diese erwies sich als Job als Sozialarbeiter bei der berüchtigten Wohlfahrtsbehörde der Stadt (später euphemistisch in „Behörde für Soziale Dienste“ umbenannt). Dort traf ich, in vielerlei Gestalt, auf das Phänomen, an das ich immer als "Die Bestie“ dachte. Aber in den meisten Fällen war der Missbraucher kein Individuum, sondern die "helfende Hand" der Regierung. Ich stand zwischen zwei Lagern: den Liberalen, die die Sozialhilfe erhöhen wollten, und den Rechten, die sie eliminieren wollten.

Die eine Gruppe unterstützte Abhängigkeit, indem sie die Kultur einer Hoffnungslosigkeit förderte, die so stark war, dass sie jede Hoffnung besiegte. Ich erinnere mich noch, wie ich ein kleines Mädchen fragte, was sie werden wollte, wenn sie einmal groß war und war fassungslos, als sie mir sagte: "Ich möchte meine eigene Akte haben."

Die andere Gruppe war der Überzeugung, dass Kinder für die "Sünden" ihrer Eltern zahlen sollten. Sie visualisierten ihre "Klienten" als faule Säcke, deren einziges Lebensziel es war, zu saufen, zu bumsen und Gefängnisse zu bevölkern.

Ich fing wieder an, jede Nacht zu schreiben. Meine Fall-Notizen waren Waffen, denn der einzige Weg, um tatsächlich etwas zur einer Änderung beitragen zu können, war, zu lernen, die komplizierte Tastatur der Codes, aus denen die "Regulierungen" bestanden, zu spielen.

Wenn ein Mann mit sechs Kindern und einer Grundschulausbildung lernen wollte, einen Lkw zu fahren, damit er für seine Familie sorgen konnte und nie mehr ein Sozialfall sein würde, zahlte die Regierung dafür nicht. Aber wenn dieselbe Familie durch einen Brand all ihren Besitz verlor, "ersetzte" die Regierung alles. (Die Wohlfahrt hatte eine Preisliste für alles, von einem Paar Socken bis hin zum Bett; dass kein Käufer überhaupt auch nur hoffen konnte, die Artikel zu diesen Preisen zu kaufen, sah man nicht als beachtenswert an). Doch wenn dieser "Brand" tatsächlich nie stattfand, konnte der "Schadensausgleich" dazu benutzt werden, um den Mann zur Lkw-Fahrschule zu schicken.

Ich hatte mein ganzes Leben lang gehört, dass das Schreiben das Leben verändern kann. Dies war das allererste mal, dass ich den Wert des kreativen Schreibens erfuhr. Ich wurde so geschickt darin, Fälle "aufzuarbeiten", dass andere Sozialarbeiter zu mir kamen, damit ich ihnen half. Versuche mal, vor Roe vs. Wade für ein Inzestopfer im Teenager-Alter eine therapeutisch-begründete Abtreibung durch zu bekommen. Versuche mal, das Geld zu bekommen, damit eine Mutter ihrem Mann das Baby zum Besuch bringen kann ... ins Gefängnis. Versuche mal, das Geld für eine Perücke für ein Kind zu bekommen, das sein Haar wegen traumatischer Alopezie verloren hat.

Das Sozialamt war zwischen Bewunderung für meine Fähigkeit, Sachen erledigt zu bekommen, und heftiger Abneigung gegen meine Methoden hin und her gerissen. Sie versuchten alles: Strafversetzung, Zwangsbeurlaubung, verschiedene Drohungen. Dann probierten sie es auf andere Weise, indem sie mich zum "geschäftsführenden" Abteilungsleiter ernannten (im Wesentlichen bekam ich den Titel und das Gehalt lange bevor ich zur Teilnahme an der Aufstiegsprüfung für den öffentlichen Dienst berechtigt war) und mir sogar ein Stipendium anboten, um ein ganztägiges Aufbaustudium zu absolvieren.

Dieses letzte Angebot erinnerte mich an die Marines. Als Gegenleistung für das Stipendium würde ich für etliche Jahre zum Sozialamt zurückkehren müssen ("beauftragt" als Abteilungsleiter auf im höheren Dienst). Ich dachte darüber nach ... etwa eine Stunde lang.

Dieser ganze Aufruhr fand mitten in der amerikanischen Horror-Geschichte namens Vietnam statt. Wie so viele andere war ich dazwischen hin- und her gerissen, gegen den Krieg und gleichzeitig für die Soldaten sein, die zum Kampf zwangsverpflichtet wurden. Radikalismus fegte über das Land. Manche Leute wollten aus anderen Land einen einzigen Parkplatz machen, um "den Kommunismus zu stoppen". Andere feuerten die "Pazifisten" an, die denjenigen Unterstützung und Trost boten, die gefangene amerikanische Soldaten folterten. Jeder, der zwischen diesen beiden entgegen gesetzten Lagern stand, geriet ins Kreuzfeuer.

Dann rief die Einberufungsbehörde an. Sie sagten mir, dass meine vor Jahren erfolgte Ablehnung durch die Marines der Frage galt, ob ich „das Zeug zum Offizier“ hatte, nicht aber meine Eignung zum normalen Soldat betraf. Zwischen meiner Wut auf dieselbe Regierung, die mein Angebot, ihr zu dienen, abgelehnt hatte und nun verlangte, dass ich genau das tat, und meinem Gefühl, dass ich nicht wusste, was richtig war, meldete ich mich.

Dieses Mal lehnten sie mich nicht ab. Ich bekam eine "vorübergehende Zurückstellung, physisch". Als ich fragte, was das bedeutete, wurde mir gesagt "es heißt genau das, was da steht". Der selbstgefällige Nichtkombattant, der mir das "erklärte", warnte mich, dass ich jederzeit "wieder einberufen" werden könnte. Ich warte immer noch.


Während ein schwerer Krieg in Südostasien wütete, brach ein anderer in Afrika aus. Als England in den sechziger Jahren seinen kolonialen "Schutz" aus Nigeria abzog, ließ es einen öffentlichen Dienst mit einer komplexen Struktur zurück, der von Angehörigen von Stämmen geleitet wurde, die Christentum praktizierten (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, die Ibos). Die anderen Stämme (vor allem die Hausa, die Muslime waren), fühlten sich vom Reichtum ihres Landes ausgegrenzt. Weil dieser Reichtum zum Großteil aus Öl bestand, hatten die neuen Herrscher keine Schwierigkeiten, verschiedene ausländische "Investoren" anzuziehen. Worin sie investierten, wurde schließlich ein völkermordender Krieg. Als eine Gruppe von Stämmen sich entschloss, die unabhängige Nation von Biafra zu gründen, beschloss die (damals militärische) Regierung Nigerias, dass dies ein Aufstand war, der gewaltsam niedergeworfen werden musste.

Niemand weiß, wie viele Menschen in dem Krieg, der folgte, starben, doch niemandem konnte die TV-Berichterstattung der wichtigsten Waffe entgehen, die die Nigerianische Regierung einsetzte… der Hunger. Als das dem Untergang geweihte "Land" Biafra von seiner Hafenstadt, die es ursprünglich als Hauptstadt errichtet hatte, abgeschnitten wurde, wurde es zu einem Binnenstaat. Straßen waren blockiert, Flüsse abgesperrt (oder, wie Gerüchte besagten, vergiftet), und auf alle anfliegenden Flugzeuge wurde geschossen. Alles, was die Regierung von Nigeria tun musste, war warten.

Die Medien überfluteten die Welt mit Bildern verhungernder Kinder. Menschen öffneten ihre Herzen - und ihre Brieftaschen. Ein Vermögen wurde für „Hilfsgütersendungen“ gesammelt. Aber es gab gleichzeitig keine "friedenserhaltende Kraft", nur noch mehr Waffenlieferungen. Das Stammeswesen war Amok gelaufen, und die einzige Zukunft war der Tod.

Eine Gruppe von Organisationen mit dem Status von UN-Beratern, unter ihnen Save the Children und die Community Development Foundation, arbeiteten einen Plan aus, in verschiedene Hilfe-zur-Selbsthilfe-Projekte in Biafra zu investieren. Das Problem bestand darin, einen Weg zu finden, die Hilfsgüter ankommen zu lassen.

Sie brauchten jemanden, der sich in das Kriegsgebiet begab, die Situation einschätzte, und, so die Hoffnung, einen Weg aufbaute, durch den die Entwicklungsgelder in langfristige, sich selbst unterhaltende Projekte umgewandelt werden könnte.

Die wesentliche Qualifikation für diesen Job war die Bereitschaft, ihn zu übernehmen. Und die hatte ich, mehr als zur Genüge.

Portugal unterstützte die Biafraner, auch wenn seine Motive als eine der wichtigsten in Afrika verbliebenen Kolonialmächte kaum humanitärer Natur waren. Also flog ich nach Lissabon, sprach mit einigen zwielichtigen Leuten, begab mich nach Genf, wo ich nach einigen Tagen des Wartens in einem Hotelzimmer durch einen weltmännischen, gut gekleideten und mehrsprachigen Gentleman kontaktiert wurde, der mir die "Genehmigung" erteilte, um in das Kriegsgebiet zu gelangen … nachdem ich eine angemessene "Spende" bereit gehalten hatte. Von dort aus ging es nach Angola und schließlich auf eine winzige, (damals ausschließlich von Portugiesen bewohnte) Insel namens São Tomé vor der Küste Nigerias.

Innerhalb weniger Tage hatte ich mit genug der "falschen Leute" gesprochen, dass ich die Insel verlassen musste … auf der Stelle. Jede Nacht gab es zwei Flüge nach Biafra—mit Maschinen mit vier Propellern, die von "Privatpersonen" geflogen wurden. Sie flogen tief über dunklem Wasser ins Landesinnere. Wenn sie es weit genug schafften und Funkkontakt mit dem Boden bekamen, erleuchtete eine kurze Reihe von Flammen die "Landebahn". Diese Flammen in der Nacht waren rote Tücher für die mit Bomben und Raketen bestückten Bomber der "Nigerianischen Luftwaffe". Auch diese Flugzeuge wurden von "Angeheuerten" geflogen.

Der frühere Flug war gefährlicher, da der Himmel noch hell war. Ohne jede Wahlmöglichkeit eilte ich zum Flughafen und sprang an Bord. Niemand stellte mir Fragen. Wie waren noch nicht lange unterwegs, als ein feindliches Flugzeug auftauchte. Die Männer sprachen mit ruhigen, leisen Stimmen. Ich fragte, wo die Fallschirme seien. Einer von ihnen sagte mir ohne jede Emotion in der Stimme, dass, wenn wir getroffen würden, lebend erwischt zu werden weit schlimmer wäre, als mit dem Flugzeug abzustürzen.

Einige Tage später, im Dschungel, erfuhr ich, dass es der zweite Flug nicht geschafft hatte.

Über den Krieg—in Wirklichkeit Mord in einer nationalen Größenordnung—wurde zu dieser Zeit nicht mehr „live“ berichtet. Ich erreichte das Kriegsgebiet. Die Journalisten waren verschwunden. Ebenso die Freiwilligen des Peace Corps . Ich brauchte nicht lange um zu erkennen, dass Biafra nicht überleben würde. All die wunderbaren Pläne die Unabhängigkeit eines freien Volkes wiederaufzubauen, zu entwickeln, zu unterstützen und zu nähren … es war zu spät. Biafras Führer hatte bereits das Land verlassen und sich an der Elfenbeinküste niedergelassen.

Wenn die feindlichen Flugzeuge angriffen, rannten die Leute in "Luftschutzräume" die nichts anderes als ein Tunnel im Boden waren. Nach meinem ersten Mal dort blieb ich an der Oberfläche. Wie die Typen im Flugzeug gesagt hatte, es gab Schlimmeres, als schnell zu sterben.

Eines Tages half ich gerade, einen Jeep aus einer schlammigen Böschung zu schieben, als ich ohnmächtig wurde. Als ich zu mir kam, waren einige Tage vergangen. Malaria, erklärten sie mir. Brennendes Fieber, kalte Schauer, keine Kraft. Medizin war nicht verfügbar. Die Biafraner, die nach mir sahen, sagten mir die Wahrheit über die Malaria—manche Leute überlebten sie, andere nicht. Das fasste auch ihre tägliche Existenz zusammen.

Zeit verging an einem Ort, wo sie keine Bedeutung hatte. Eines Tages trugen und zerrten mich ein paar kleine, afrikanische Nonnen zu einem abfliegenden Flugzeug—dann gingen sie zurück in den Dschungel, hatten ihre Arbeit noch nicht getan. Das geistergraue Flugzeug hatte keine Abzeichen am Rumpf und flog sehr niedrig über dem Boden, doch es hatte genug Treibstoff an Bord, um mich zurück nach Lissabon zu bringen, wo ich ein Hotelzimmer fand und zusammenbrach.

Als man mich evakuiert hatte, wog ich weniger als fünfzig Kilo. Malaria ist nicht immer tödlich, aber Verhungern ist eine sichere Sache. Bis heute weiß niemand, wie viele Leben dieser "Taktik" zum Opfer gefallen sind.

Während ich mich erholte, wurde ich durch verschiedene Individuen und Behörden befragt, einige von ihnen offiziell, andere ganz klar nicht. Ein Motto tauchte auf, das mich seitdem immer begleitete ... Die Welt hat viel mehr Menschenfreunde als Ausbeuter, aber die Ausbeuter geben sich ihrer Aufgabe weitaus mehr hin. Man sagte mir, dass mich die Nigerianische Regierung als Kriegsverbrecher führte, offenkundig in dem Glauben, dass ich während des Konflikts als Söldner gedient hätte. Oder vielleicht weil automatisch jeder, der versuchte die Menschen zu ernähren, die sie in voller Absicht verhungern ließen, sich damit als Staatsfeind qualifizierte.

Als ich mich ausreichend erholt hatte, um in mein Leben zurückzukehren, war es spät in den siebziger Jahren. Ich nahm ein Stipendium am Industrial Areas Foundation Training Institute in Chicago, einer Gründung des legendären Sozialarbeiters Saul Alinsky an . Ich packte meinen Seesack und machte mich auf in Richtung Highway.

Ich verbrachte nur kurze Zeit am Institut selbst und wurde fast auf der Stelle einem gerade begonnenen Vorhaben in Lake County, Indiana, zugeteilt, wo das Leben durch gigantische Stahlwerke bestimmt wurde.

Einmal mehr fand ich mich inmitten eines Einsatzes, bei dem "meine Seite" alles war, nur nicht vereint. Viele der "Sozialarbeiter" betrachteten jeden, vor allem männlichen, Weißen aus der Arbeiterklasse als rassistischen Schlägertypen und glaubten, dass man jeden Versuch, sie zu organisieren, am besten dem KKK (Ku-Klux-Klan, Anm. d. Übers.) überlassen sollte. Sie konnten Malcolm X und Huey Newton und Eldrige Cleaver zitieren, hatten aber noch nie etwas von of Wesley Everest, Big Bill Haywood, den MacNamara Brüdern oder dem IWW (Industrial Workers of the World; internationaler Gewerkschaftsbund der Arbeiter, Anm. d. Übers.) gehört. Ich glaube es war ihre Art von fehlgeleitetem, elitärem Liberalismus, der es den George Lincoln Rockwells dieser Welt erlaubte, "white power" zum Synonym für gewalttätigen Rassismus zu machen, das es heute darstellt.

Doch wie in jedem anderen Job auch, fand ich wahre Mitstreiter; jene, die meine Träume teilten und an meiner Seite kämpften, wenn ich die Risiken einging, die diese Träume verlangten.

Als meine Anstellung endete, endete auch mein Interesse an der Leitung der kommunalen Einrichtung. Ich dachte daran, Bewährungshelfer für Jugendliche zu werden und mit Straßenbanden zu arbeiten. Doch ich wusste, dass dies sehr bald schon keinen Unterschied zur Wohlfahrtsbehörde darstellen würde.

Ich wollte kämpfen, aber nicht ohne Rückendeckung. Also fuhr ich nach ein paar angespannten Wochen zu einer "volksnahen" kommunalen Einrichtung in Chicagos berüchtigter Uptown-Gemeinde, die damals fast ausschließlich von umgesiedelten Migranten aus den Appalachen bevölkert wurde. Auf der Suche nach Arbeit in den großen Stahlwerken kamen sie nach Norden und fanden dort nur Armut und Verzweiflung. Es war zudem das Zuhause für die größte Gruppe von Indianern außerhalb der Reservate im Land. Es war eine trostlose Gegend mit Mietskasernen, Schnapsläden, Pfandleihen, Ginfabriken und Spelunken. Blutspenden war eine solch eine allgemeine Beschäftigung, dass der Van, den jeder nur das Draculamobil nannte, so oft vorbeikam wie die Polizei.

Es stellte sich heraus, dass die "Gemeinde"-einrichtung von einem unglaublich wohlhabenden Menschen kontrolliert wurde, dessen "Philosophie" (obligatorisch) von all seinen Angestellten gepriesen wurde. Die "Klienten" wurden als „schlecht“ auf die Welt gekommene Gewalttätige betrachtet und die "Sozialarbeit" war tatsächlich nichts anderes als klassische Missionierung.

Ich fand schnell Partner in der Einrichtung und wir nahmen uns vor, ihre Schließung zu erreichen. Als wir massenhaft kündigten, schickten wir mein höchst detailliertes Rücktrittsschreiben—meine Gewohnheit, Tagebuch zu führen hatte mich alles festhalten lassen—direkt an den Gründer. Binnen weniger Wochen schloss die „kommunale Einrichtung“ ihre Türen.

Zur gleichen Zeit eröffneten wir unser eigene Einrichtung, in einem winzigen Laden auf dem North Broadway, in der Nähe der Wilson Avenue, dem Epizentrum des Wohngebiets. Anders als das traditionelle "Wohlfahrts-"modell war unsere Organisation "nur für Mitglieder." Man musste zahlen, um einzutreten; zu jener Zeit kostete es einen Vierteldollar. Und es wurde erwartet, dass man aktiv teilnahm und nicht nur passiver Empfänger war.

Die Gemeinde antwortete mit Klasse, Würde und Stolz. Uptown Community Organization diente mit allem, mit religiösen Angeboten — wir hatten den charismatischen, berüchtigten Rev. Iberus Hacker, dessen Anti-Klan Kirche damals in Tennessee in die Luft gesprengt wurde — eine Stellenvermittlung, psychologische Betreuung und Lebensmittelvorräte, alles beigesteuert durch die Mitglieder unter Nutzung der Struktur einer Genossenschaft.

Es war eine wundervolle Erfahrung für mich, doch ich fühlte mich … „ausgekuppelt“. Umso mehr Zeit ich mit geschädigten und verletzten Kindern verbrachte, vor allem mit den Absolventen der "Erziehungsanstalten" von Illinois, die Mitglieder von Banden wurden, desto mehr wurde mir klar, dass ich näher heran musste, der Bestie, die ich immer noch jagte, direkt entgegentreten musste.

Dieses Mal folgte ich dem Highway nach Boston, wo ich Arbeit als Leiter eines Wiedereingliederungszentrums für Ex-Sträflinge fand. Es gab zahllose Kandidaten für den Job, und die gesamte Mitgliederzahl bestand aus dem Auswahlkommittee. Ich hatte nicht die Zeugnisse vieler anderer Bewerber, aber ich hatte die „Referenzen“, die die tiefste Resonanz erzeugten.

Libra Inc. wuchs rapide und wir hatten viele Erfolge. Wie immer nutzte ich meine Fähigkeiten als Interviewer, um zu lernen, und meine Fertigkeiten als Autor, um Einkommen für unsere Organisation zu erzielen. Doch dann erkannte ich eine grundlegende Wahrheit—die einzig wahren Organisatoren waren jene, die immer wieder zum nächsten Einsatz weiter zogen.


Zu jener Zeit war Massachusetts die vorderste Woge der Welle der "De-Institutionalisierung", die über das Land schwappte. Es gab die allgemeine Erkenntnis, dass Jugendgefängnisse nicht nur brutale, gefährliche Orte waren, sondern auch brutale und gefährliche Abgänger produzierten. Es war Teil eines politischen und gesellschaftlichen Verständnisses: wenn eine Kindheit voller Misshandlung Kinder in Richtung eines anti-sozialen Verhaltens trieb, würden dann misshandelnde Antworten auf diesen Antrieb das Problem nicht nur verschlimmern?

Alles andere als "resozialisierend" waren Jugendgefängnisse (ganz gleich, welch nette Namen sie trugen) Verbrechensfabriken, und ihr Produkt gefährdete die gesamte Gesellschaft. Als Massachusetts entschied, alle seine "Trainingscamps" zu schließen und die Insassen in "Einrichtungen auf Gemeinschaftsbasis," unterzubringen, blieb selbstverständlich ein hardcore-Rest bestehen … junge Menschen, deren Verbrechen so brutal waren, oder deren Vorstrafenregister so schlimm war, dass die "Gemeinschaft" sie in einer innerstädtischen Wohnlage nicht akzeptieren würde. Also stellte man eine geschlossene "therapeutische Einrichtung“ für jene vor, die nicht "recycled" werden konnten. Es gab eine Jugendstrafanstalt etwas außerhalb von Boston, die das „erfolgreich“ übernahm.

Die "therapeutische Einrichtung" scheiterte. Die Werte und die Kultur der Einrichtungen für Jugendliche, in denen die "Bewohner" herangezogen wurden, erwies sich als weit stärker als die "stelle dich deinen Gefühlen"-Rhetorik eines Personals, dessen Lebenserfahrung sie nicht auf die Aufgabe der Interaktion mit brutalen und gefährlichen Teenagern vorbereitet hatte.

Das Wort "scheiterte" war keine akademische Beurteilung. Fluchten geschahen regelmäßig. Mitglieder des Mitarbeiterstabes wurden überfallen, manche von ihnen sexuell. Gewalttätigkeit unter den "Bewohnern" war weit verbreitet. Versuche, eine "Chip-Wirtschaft" einzuführen, in der Gefangene "Punkte" ansammeln konnten, indem sie sich in einer "dem Geist der Gemeinschaft förderlichen Weise " verhielten — Übersetzung: niemanden erstechen — waren grotesk in einer Welt, in der "Macht schafft Recht" die einzige Religion war — und in der alle Einwohner Fundamentalisten waren.

Als die Institution als "ständig außer Kontrolle“ abgestempelt wurde, bot man mir an, die Einrichtung zu leiten. Ich gab mich keinen Illusionen darüber hin, warum ich angeheuert wurde. Was sie wollten, war ein redegewandter Rüpel: ein Mann, der Ruhe und Ordnung schaffen konnte, ohne in die Zeiten der physisch-gewalttätigen Unterdrückung durch das Personal zurückzufallen.

Da ich freie Hand hatte, brachte ich meine eigenen Leute mit. Viele von ihnen waren Ex-Sträflinge, von denen manche auch Zeit hinter eben jenen Mauern abgesessen hatten. Es gab keinen sanften Übergang. Wir erklärten, dass es mit den alten Methoden vorbei war. Es würde eine neue Führung geben, eine neue Kultur und einen neuen Weg, die Geschäfte zu führen. Man konnte es sich aussuchen, wie man behandelt wurde, doch die Wahl konnte nur durch das Verhalten erfolgen, nicht durch Worte.

Wir schafften das "Punktesystem" ab und führten drei Regeln ein: keine Gewalt, keine sexuellen Übergriffe, keine Drogen. Es war uns bewusst, dass alle Institutionen diese Regeln hatten, die gleichermaßen zugunsten des "kid boss"-Systems ignoriert wurden, in welchem das Personal sich auf Insassen verließ, "um den Laden ruhig zu halten."

Doch das war nicht unser Weg. Wir vertrauten nicht auf Ausrüstung, um die Arbeit von Menschen zu erledigen und verlangten, dass der gesamte Mitarbeiterstab bei den Insassen auf den Gängen war, jederzeit und überall. Wir wussten dass ein "ruhiges" Gefängnis nicht unbedingt ein sicheres Gefängnis war und dass wir auf keinen Wandel hoffen durften, solange wir nicht die Bewohner vor den Raubtieren schützen konnten. Und solange wir die Bewohner nicht einbeziehen konnten, würden wir die institutionelle Kultur nicht ändern.

Als das Wort von diesem großen, hochriskanten Experiment die Runde machte, trat eine große Auswahl von Freiwilligen unserer gemischten Truppe bei. Musiker, Lehrer, Jurastudenten, Künstler, und andere Menschen mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund leisteten ihren Beitrag.

Einige dieser Freiwilligen erwiesen sich als gut genug, um Teil des Mitarbeiterstabs zu werden. Unter ihnen war eine wunderschöne, hitzige Jurastudentin, die zuvor VISTA-Freiwillige in New York's Rikers Island, einem der größten und gefährlichsten Gefängnisse in Amerika, war. Nachdem sie den Job aufgab, um weiter zu studieren, bekam sie einen staatlichen Auftrag, eine Darstellung der Anstaltsgeschichte zu schreiben. Eines ihrer obligatorischen Interviews fand mit mir statt. Irgendwann später merkte ich, dass ich meinen Partner fürs Leben gefunden hatte. In einem Leben voller Glücksspiel erwies sie sich als mein Hauptgewinn.

Meine Frau, Alice, schlug einen Berufsweg ein, der unter anderem die Stelle als Leiterin der Opferabteilung der Queens County Bezirksstaatsanwaltschaft beinhaltete. Als sie gefeuert wurde (eine Familientradition), weil sie sich weigerte "mitzuspielen um weiterzuspielen" schrieb sie ein Sachbuch, dessen Titel alles sagt:

"Sexualverbrechen: Zehn Jahre an vorderster Front in der Strafverfolgung von Vergewaltigern und in der Konfrontation mit ihren Kollaborateuren" (deutsch: „Merkt Euch Ihre Namen!“, Anm. d. Übers.)

Heute schützt sie Stalking-Opfer sowie Opfer von Misshandlung und Missbrauch und ähnlichen Gräueltaten.

Innerhalb der Einrichtung—die wir ANDROS II nannten—versuchten wir Lehrende und Lernende zu sein.. Der Mitarbeiterstab entwickelte solch einen Zusammenhalt, dass man uns bisweilen als eine „Gang“ betrachtete, die neuen Boden betrat. Wir nahmen -jeden Tag- extreme Risiken auf uns, wussten, dass man uns mit einem administrativen Fingerschnipsen schließen konnte.

Wir erzielten Erfolge auf zwei Ebenen. Nur Leute "aus dem Geschäft" verstanden die Bedeutung des ersten: unter meiner Leitung gab es in der Einrichtung keine Vergewaltigungen, keine Messerstechereien und keine Selbstmorde. Der zweite war allgemeiner zu sehen, da junge Männer, deren gesamtes bisheriges Leben aus Verbrechen und Gewalt bestand, zu -um es mit einem Wort zu sagen- „Bürgern“ wurden.

Wir hatten nicht nur Erfolge. Während manche uns verließen, um ehrliche Arbeiter zu werden, und andere die Berufsschule oder das College besuchten, führte einige der Weg zurück ins Verbrechen. Einer tötete zwei Polizeibeamte. Ein anderer—ein bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahr voll entfalteter, sadistischer Sexualverbrecher—hat das "System" nie verlassen.

Ich erlangte völligen Einblick in die Wahrheit dieser „Versagensfälle“. Zu der Zeit, als wir dorthin gelangten, war es bereits zu spät.

Dieses Verständnis wurde zum Fundament für den Rest meines Lebens. Das war es, was ich lernte: es gibt keinen biogenetischen Code, der einen Vergewaltiger oder einen Serienkiller produziert, oder einen Brandstifter, der beim Anblick der Flammen kichert. Wir erschaffen unsere eigenen Monster. Wir bringen unsere eigenen Bestien hervor. Kinderschutz und Verbrechensprävention sind unlösbar miteinander verbunden. Und je früher die Intervention erfolgt, umso besser sind unsere Aussichten auf einen erfolgreichen Ausgang.

An diesem Punkt entschied ich, dass ich, um ein Handelnder des Wandels zu sein, mein eigener Herr sein musste. Ich würde niemals ein "guter Angestellter" sein. Ich wollte meine eigenen Schlachten wählen und sie mit jeder Waffe führen, die mir zur Verfügung stand. Also entschied ich mich, Jura zu studieren und mein Praktizieren der Vertretung von Kindern zu widmen.

Über die ganze Zeit hinweg, während all der verschiedenen Jobs und Erlebnisse, schrieb ich. Nicht nur Berichte, Tagebucheintrage, Finanzierungsvorschläge und detaillierte Analysen. Ich schrieb "Erzählungen", versuchte das Gelernte in jene Art von Büchern einzubringen, die ich als Kind so bewundert hatte. Bücher, die Leute zum Nachdenken bringen würden, sicher. Aber, viel wichtiger, Bücher, die Leute wütend genug machen würden, um etwas zu tun.

Wegen der Kraft einiger früher Kurzgeschichten und meiner „Tagebuch“einträge hatte ich die Aufmerksamkeit einer Agentur auf mich gezogen, die seither zum Mythos wurde. Die John Schaffner Agency war eine vornehme, hochangesehene literarische Agentur im wahrsten Sinne des Wortes. Zunächst John Schaffner selbst, später dann sein Partner, Victor Chapin, verbrachten Jahre damit, mich zu ermutige, ohne jemals einen Groschen für ihre Bemühungen zu sehen. Ich hatte ein Tagebuch geschrieben während der Zeit in Biafra, aus dem ich einen Roman machte. Sie versuchten, ihn zu verkaufen, schwammen flussaufwärts gegen einen Strom von Ablehnungen. Als ich entmutigt war, stellten sie heraus, dass jedes Ablehnungsschreiben Nuggets des Lobes für meine schriftstellerischen Fähigkeiten enthielt und man den Fehler nur in dem Thema selbst sah.

Victor arbeitete mit mir an Form und Struktur und lehrte mich das Konzept erzählerischer Kraft. Er versprach mir wieder und wieder, dass es eines Tages "passieren" würde.

Aber das tat es nicht. Und als ich das Studium begann, war ich bereit es aufzugeben. Ich schrieb Victor und sagte ihm, dass sich mein Schreiben von nun an auf Anträge, Schriftsätze und Eingaben beschränken würde. Ich habe noch immer sein Antwortschreiben.

"[Der] einzige Weg, wie du jemals ein gesunder, freier Mensch sein wirst, besteht darin, dass du ein Autor bist. Dies scheint mir ein tief hinab reichender und wichtiger Teil von Dir zu sein und wenn du ihn ignorierst oder vernachlässigst, wirst du dafür bezahlen. Es kann dir eine Hilfe und ein Trost sein. Du hast so viel zu sagen und fühlst dich so stark hinsichtlich mancher Dinge; plus die Tatsache, dass du so viele Erfahrungen gemacht hast, die normalerweise nicht Teil des Lebens eines Durchschnittsautoren sind. All das summiert sich zu einem großartigen Potential für das Schreiben. So sehen wir es jedenfalls. Also bitte verzweifle nicht und denke daran, zu schreiben, auch wenn du im Moment zu erledigt bist, um dich darum zu kümmern. Wir werden dich weiter motivieren."

Ich hatte all meine angesammelten Ersparnisse verbraucht, um durch mein erstes Studienjahr zu stolpern, mit aller Kraft von einem der beiden Freunde unterstützt, die ich dort gewonnen hatte. Wir teilten uns ein kakerlakenverseuchtes Loch und ernährten uns von Dosenfisch, der von Freunden von den Dock „gespendet“ wurde. Nach dem ersten Jahr war ich total abgebrannt. Völlig pleite. Ich kehrte nach Hause nach New York zurück, fand einen Job und begann mit der Suche nach einer Universität in der Nähe, auf die ich wechseln konnte – eine, die mir vielleicht eine gewisse finanzielle Unterstützung bot.

Ich begann mit der Arbeit an einem Roman, der zusammenfasste, was ich über Verbrechen und seine Ursachen gelernt hatte. Versuchte zu lehren, was ich gelernt hatte. Eine Doktorarbeit ohne Fußnoten.

Victor war wie immer voller Unterstützung und ermutigend, sogar als er mir aufrichtig mitteilte, "Das ist einfach zu düster, Andrew. Ein Buch braucht seine Zeit, und die Zeit von diesem ist noch nicht gekommen".

"Aber es ist die Wahrheit" sagte ich zu ihm.

Und mein Agent, mein Freund, zog die Augenbrauen nach oben, zuckte mit den Schultern und machte wortlos deutlich, dass er wusste wie es ist, seine Zeit zu finden. Denn Victor war auf seine Art so tapfer wie mein Vater. Ein offen schwuler Mann in einer Zeit, als es nicht sicher war, das zu sein. Victor hatte den Einsatz erhöht, hatte während des zweiten Weltkriegs den Kriegsdienst verweigert. Seinen "Ersatzdienst" leistete er in einer Irrenanstalt ab. Und schrieb ein Buch darüber. (On The Hill, Museum Press, Ltd., London, 1956)

Ich hatte nicht geplant, nach Boston zurückzukehren. Ich dachte daran, weiter zu arbeiten, in welchem Job auch immer, bis ich genug Geld für die nächste Runde gespart hätte. Dann erreichte mich mein Jahrgangsabschluss mit der Post. Ich dachte, die Mitteilung wäre ein Computerfehler. Doch ein Anruf der Schule bestätigte seine Gültigkeit. Und durch den gleichen Anruf erfuhr ich, dass die Universität exakt ein Stipendium für Studenten im zweiten Studienjahr vergeben hatte, reserviert für den Besten des ersten Jahres.

Das war ich. Also packte ich mal wieder meinen Seesack, schmiss ihn auf den Rücksitz meines zusammengebastelten zehn Jahre alten Oldsmobile und fuhr zurück nach Norden. Mein anderer Kumpel an der Uni ließ mich bei sich einziehen. Ich kam zurecht, mit Spielen, gelegentlicher Beratungsarbeit und sehr ökonomischen Essgewohnheiten.

Meine nächste Anstrengung war ein Roman namens A Bomb Built in Hell. (deutsch: EISGOTT, Anm. d. Übers.) Dieses Mal waren die Ablehnungsschreiben wesentlich deutlicher. Ich war ein Autor mit "enormer Kraft" und hatte eine "brillante Gabe der Sprache," doch das Material … "außer Frage". Herausgeber ließen sich wieder und wieder aus über meine "kranke Vorstellungskraft" und "hässliche Fantasien" Einer nannte meine Arbeit "eine politische Horror-Story." Ein anderer sagte, sie sei so unrealistisch, dass sie "jenseits von Science Fiction" sei.

A Bomb Built in Hell endet mit einem zutiefst gestörten jungen Mann, der so entfremdet ist, dass er sich selbst nicht mehr als menschliches Wesen betrachtet; der eine Vorstadtschule mit einem Seesack voller Waffen betritt und den nachhaltigen Versuch unternimmt, jeden in dieser Schule umzubringen, bevor er sich selbst das Leben nimmt.

Konnte nicht passieren. Niemals. Trotz allem war dies 1973.


Doch damals arbeitete ich an etwas anderem. Ich machte meinen Abschluss an der Universität und fing bei Null an, eine Anwaltskanzlei aufzubauen. Nachts fuhr ich Taxi, druckte mir mein eigenes Briefpapier mit einer geliehenen "Setzmaschine," und hatte eine Abmachung mit den Inhabern eines Chinarestaurants, die mich als Gegenleistung für juristische Beratungen ihre hintere Sitzecke und ihr Telefon benutzen ließen.

Denn es war unmöglich, ausschließlich von der Vertretung von Kindern zu leben. Ich wendete mich der einen Sache zu, mit der ich mich auskannte ... dem Verbrechen. Während eines Teils meiner Zeit übernahm ich Strafverteidigungen, und das beglich die Kosten der Vertretung misshandelter und vernachlässigter Kinder … und der Verteidigung jener Kinder vor Jugendgerichten, bei denen das "Kindesschutzsystem" seine Chance verpasst hatte, als es sie bekam.

Ich musste nicht nach Mandanten suchen, nicht nur weil ich so viele Leute kannte, deren Lebensweg garantierte, dass sie früher oder später einen Strafverteidiger brauchten. Als Jurastudent hatte ich eine juristische Abhandlung verfasst , die den Kampf um die Freilassung eines Freundes von mir beschrieb, der wegen eines Verbrechens inhaftiert war, das er nicht begangen hatte. ("Parole As Post-Conviction Relief: The Robert Lewis Decision," New England Law Review Vol. 9, No. 1 1973). Als der Artikel erschien, war mein Freund frei und ich hatte meine erste „Fanpost“ von Häftlingen überall im Land, die mir erzählten, dass sie den von mir entworfenen Text als Muster verwenden wollten, um ihre eigene Wiederaufnahmeablehnung anzufechten. Und die Worte machten die Runde.

The author working in his office, c.1980s
Der Autor bei der Arbeit in seinem Büro in den 80iger Jahren.

Man bat mich in Fällen überall im Land um Hilfe: ein Prozess wegen verschobener Pferderennen in Detroit, ein Totschlag in Florida, eine Berufung in Rhode Island, eine schwere Körperverletzung in Pennsylvania, ein Gnadengesuch in Louisiana …. und, wieder zu Hause, hatte ich die Ehre eine engagierte und couragierte Gruppe zu vertreten, die für die Existenz des Hostos Community College in der South Bronx kämpfte. Als ihr Ringen in die Besetzung der Amtszimmer der Universitätsverwaltung mündete, verhandelte ich mit der Polizei, die das Gebäude umstellt hatte.

Währenddessen schrieb ich zwar noch, hatte aber die Romane aufgegeben . Mein Projekt war ein Sachbuch, das sich mit dem befasste, was ich als Leiter der Jugendstrafanstalt gelernt hatte. The Life-Style Violent Juvenile: The Secure Treatment Approach wurde 1979 veröffentlicht, nennenswert beschleunigt durch Fördermittel der John Hay Whitney Foundation und der New York Foundation, die beide ein lebhaftes Interesse an Themen aus dem Bereich des Jugendstrafrechts hatten.

Doch während das Buch von der Kritik gut aufgenommen wurde und zu zahllosen Beratungen, öffentlichen Besprechungen, und für das Verfassen von Sachtexten herangezogen wurde, erreichte es niemals die "Große Jury" an die ich mich von Anfang an wenden wollte. Seine Wirkung beschränkte sich auf das Fachpublikum. Und das war nicht genug.

Denn seinerzeit war mein Hass auf jene, die Jagd auf Kinder machten, pathologisch geworden. Und auch wenn jeder Sieg im Gerichtssaal ein individuelles Kind schützte, so schützte er doch nicht Kinder. Ich bekämpfte Kindesmisshandler, ohne die Kindesmisshandlung vor die Fäuste zu bekommen.

Ich erinnerte mich an einen Film, den ich viele Jahre zuvor gesehen hatte. The Bad Seed war die Geschichte eines kleinen Mädchens, das von seiner liebenden Familie angebetet und behütet wurde. Sie war ein hübsches, intelligentes Kind … und gleichzeitig ein Serienkiller. Eine gewissenlose Psychopathin, die Menschen als Manipulationsobjekte betrachtete , ein Mädchen, erschreckend in ihrer absoluten Selbstbezogenheit, und wie wurde ein solches Monster "erklärt"? Ihre Großmutter schien ebenfalls eine Mörderin gewesen zu sein und die "Krankheit" hatte "eine Generation übersprungen" Ich fragte mich, wie viele missbrauchte Kinder von Jurys verurteilt wurden, die glaubten, dass die jungen Menschen, die vor ihnen standen, einen genetischen Defekt hatten? Wie viele in Amerika glauben, dass ein Kind "böse geboren" wird?

Entschlossen, den Mittelweg zu finden, von dem Victor immer sprach, entwickelte ich einen privaten Ermittler, den einige später den "Anti-Chandler" nannten. Alles was auf seiner Geburtsurkunde steht ist "Baby Boy" Burke. Er wurde im Krankenhaus von einer Mutter zurückgelassen, die er nie kennen lernte. An der Stelle im Vordruck für "Vater" steht nur das Wort "Unbekannt"

Burke ist ein Söldner, käuflich, ein Berufsverbrecher (zwei Haftstrafen). Der Prototyp des missbrauchten Kindes: extrem wachsam, misstrauisch, und, in Burkes Fall, mit einer intensiven Bindung an seine "Wahlfamilie", eine Ansammlung von Outlaws die nichts gemeinsam haben außer ihrer Zugehörigkeit zu jenem weit verbreiteten Stamm die ich die "Kinder des Geheimnisses" nannte. Burke wurde die Antithese des "Weißen Ritters" den die Detektivromane so sehr liebten.

Ich plante das Buch als ein Trojanisches Pferd. Einen Kriminalroman, dessen Geschichte seinen Leser gleichermaßen mitreißt, wie sie ihm eine stete Dosis Hardcore-Realität verabreicht. Ich besaß keinen Radiosender, keine Zeitung und keine Fernsehgesellschaft. Dies war das Propaganda-Bulletin eines arbeitenden Mannes und ich habe nie vorgegeben, dass es etwas anders wäre.

Sogar der Name "Burke" ist Teil davon. Die berüchtigte Totschläger-Partnerschaft von Burke und Hare begann als Unternehmung von Grabräubern. Im frühen neunzehnten Jahrhundert versorgte das Duo die örtliche medizinische Fakultät mit frischen Kadavern. Als sie den Friedhof schließlich geleert hatten, schufen Sie ihr eigenes "Produkt", indem sie ein „Hotel“ eröffneten. Nur wenige Gäste reisten wieder ab. Da sie der medizinischen Fakultät keine Leichen mit frischen Wunden verkaufen konnten, wurde Burke so versiert darin zu töten, ohne Spuren zu hinterlassen, dass bis zum heutigen Tage der Ausdruck "to burke" eben dafür steht.

Burke wurde gehängt, seiner Hinrichtung wohnten Tausende bei. Hare, zum Informant der Polizei geworden, wurde freigelassen

Wenn ich den Leuten zeigen wollte, wie die Hölle aussah, konnte ich keinen Engel als Führer gebrauchen. Und wenn ich die Botschaft in dem Medium des "Kriminalromans" unterbringen wollte, welchen besseren Namen für meinen "Helden" konnte es dann geben?

Ich nannte dieses erste Buch Flood, (deutsch: Kata), nach dem Namen einer Frau auf ihrer Reise den Verbrecher zu finden, der das Kind ihrer besten Freundin vergewaltigt und ermordet hatte. Er kam an das Kind heran, weil er in einer Tagespflegeeinrichtung arbeitete. Ich erwartete, dass die Verleger mit diesem Buch die gleichen "Probleme" haben würden wie mit jeder anderen „Erzählung“ die ich jemals geschrieben hatte, doch Victor versicherte mir: "Diesmal haben wir es geschafft! Alles wovon wir geträumt haben, dieses Buch wird es wahr werden lassen."

Und dann starb er und verließ mich. Ein Herzinfarkt. Am vierten März 1983.

Jahre später wurde ich durch einen Journalisten wegen einiger Fälle interviewt, die ich gerade bearbeitete.  Nach der Hälfte unseres Gesprächs sagte er, "Sie sollten ein Buch schreiben". Ich sagte, ihm, das hätte ich, aber...

Er fragte, ob er das Manuskript sehen dürfe. Ich zog es aus einer Schublade, entstaubte es und gab es ihm.

Der Journalist war David Hechler, der später einen hervorragenden Bericht schreiben würde, den er  völlig korrekt als "Der Krieg gegen den sexuellen Kindesmissbrauch" bezeichnete, (The Battle and the Backlash: The Child Sexual Abuse War, D.C. Heath, Lexington, MA, 1988). Mit Hilfe seines Vaters, dem brillanten Wirtschaftswissenschaftler Ira Hechler, fand mein Manuskript schließlich  den Weg zu dem berüchtigten, jähzornigen Donald I. Fine, der für sein Temperament ebenso bekannt war wie für seine vielen literarischen Entdeckungen. Fine hatte gerade seinen eigenen kleinen Verlag gegründet und Flood (dt.: Kata) war eines seiner ersten Projekte.

Es war Victor Chapin gewidmet.

Die Rezensionen waren "gemischt," was zu einem Markenzeichen wurde. Ich war entweder "ein moderner Dickens" oder "der König des geschliffenen Slasher-Pornos." Einige Rezensenten—deren Vorstellung von "rauer Realität" aus einem stark trinkenden  Privatdetektiven besteht, der Fälle aus der Güte seines Herzens übernimmt, wann immer eine Puppe mit entsprechenden Kurven sein billiges Büro betritt, dann nach der Sicherheit seines Revolvers greift und die Hauptraße auf der Suche nach Gerechtigkeit hinunterstolziert, ohne sich jemals durch die unvermeidlichen Schusswunden und Schläge auf den Kopf mit stumpfen Gegenständen davon abbringen zu lassen—waren außer sich, dass  ich von der geheiligten Formel abwich. Andere waren der Meinung dass ich, wenn ich einen Roman über Kindesmisshandlung schreiben wollte,  keine "Kriminalliteratur" schreiben sollte—als ob die Misshandlung von Kindern irgendeine Art von sozialem Problem wäre und kein Verbrechen. Andere unterstützten sehr stark, was ich tat und warum ich es tat.

Für jene, die  "Kriminalliteratur" als irgendeine geheiligte Ikone betrachten, die einer strengen Formel folgen muss, werde ich immer der Mann sein, der 18-silbige Haiku schreibt. Fundamentalisten hassen Häretiker. Für mich jedoch ist das Verbrechen selbst eines der grundlegenden Dinge der menschlichen Existenz. Verbrechen raubt den Pulsschlag einer Kultur. Es sagt uns die Wahrheit über uns als Spezies. Ich lehne das Genre-Ghetto ab, in das solche Literatur zu oft abgeschoben wird.

Während ich heute die meiste "Kritik" abtue —vor allem den Austausch von Gefälligkeiten, der das literarische Geschäft verschmutzt, seit es Rezensionen gibt—gibt es eine, die es nie versäumt aufzutauchen, die unfassbar dumme Behauptung, dass ich  "bildliche Beschreibungen des sexuellen Kindesmissbrauchs" schriebe oder dass meine Bücher für Pädophile "sexuell stimulierend" seien. Die definitive Antwort auf all diesen Müll—ob boshafter oder ignoranter Natur,  jede Definition trifft zu—tauchte unlängst in einem Text von Dr. Anna Salter, eine von Amerikas führenden Autoritäten bzgl.. Sexualstraftätern, auf, als Antwort auf eine Rechtfertigungsschrift für Pädophile, die von einer Judith Levine verfasst wurde:

Sex zwischen Erwachsenen und Kindern—sagen uns diese neuen Befürworter—richtet jedenfalls keinen Schaden an, und wir sind einfach nur Moralisten, indem wir es "Missbrauch" nennen. Sogar die alten Schmähungen sind zurück. Dieses Mal werden seltener die Kinder oder deren Mütter attackiert, auch wenn es einigen weiterhin so ergeht.. Dieses Mal gelten die Beschimpfungen jenen, die misshandelte Kinder behandeln, begutachten oder vertreten. In Levines Welt wird Andrew Vachss, der Anwalt und Autor,  zum "Sex-Thriller Autoren," als ob -wenn es irgendetwas gibt, was Vachss nie beschreibt, dann ist das der Sex mit Kindern-  es das in irgendeiner Weise "spannend" macht. (Predators, Pedophiles, Rapists, and other Sex Offenders: Who They Are, How They Operate, and How We Can Protect Ourselves and Our Children, Basic Books, 2003, p. 68)

Innerhalb weniger Tage nach der Veröffentlichung von Flood (dt.: Kata), bot man mir einen Vertrag über eine ganze Reihe von Büchern an  und ich hörte plötzlich von Verlegern, die das vorangegangene Buch abgelehnt, nun aber ihre Haltung "überdacht" hatten.  Binnen weniger Monate gab ich die Strafverteidigung auf. Seither haben es mir die Bücher ermöglicht, ausschließlich Kinder und Jugendliche zu vertreten.

Im Jahre 2003 ist die Burke-Serie in die fünfzehnte Runde gegangen, in mehr als einem Dutzend Sprachen. Das Muster wurde vor langer Zeit angelegt. Als ich über darüber schrieb, wie gewalttätige Pädosexuelle mit Kinderpornographie über Modem handelten, attackierten einige Kritiker dies sofort als "pervertierte Fantasie". Das war Anfang 1987, bevor das Internet seine Auswirkungen auf das amerikanische Bewusstsein hatte. Meine Arbeit bringt mich regelmäßig in Kontakt mit Informationen, die in der Welt der Bücher noch nicht an die Oberfläche gekommen sind.  Ich muss für mein Material keine "Recherchen" anstellen. Und weit mehr als dass sie hochgeputschte "Fantasien" wären, sind sie meine Romane abgemildert. Sonny Mehta, mein Herausgeber und Verleger, prägte den Begriff "investigative Romane", um meine Arbeit zu beschreiben. 

With President Bill Clinton, 1993, after the President signed the National Child Protection Act, which created a database to help track child abusers. The author suggested the bill while a guest on the Oprah Winfrey show.
Mit Präsident Bill Clinton, 1993, nachdem der Präsident den National Child Protection Act, unterzeichnet hatte, durch den eine Datenbank aufgebaut wurde, die dazu dienen soll, Kindesmisshandler zu verfolgen. Der Autor empfahl das Gesetz als Gast in der Oprah Winfrey Show.

Ich hatte es nicht darauf angelegt, eine ganze Serie zu schreiben. Wer außer einem  unheilbaren Narziss würde das tun? Aus diesem Grunde ist, meiner Meinung nach,  Flood (dt.: Kata) der schwächste Roman der Burke-Serie.  Ich dachte, es würde ein Kampf über eine Runde sein, also feuerte ich alles ab, was ich hatte—das Buch hätte um ein Drittel kürzer sein können. In Wahrheit sind die Bücher Kapitel. Meine Charaktere sind keine bereit stehenden Figuren, die auf neue Abenteuer warten. Sie altern, sie ändern sich, manche von ihnen sterben sogar.

Die Bücher haben mehr getan, als mir ein Einkommen zu verschaffen, das die Kosten einer Anwaltskanzlei trägt. Sie haben Türen zu Orten geöffnet, die ich nie zu sehen erwartet hatte. Von der Möglichkeit, mich persönlich an ein Publikum überall auf der Welt zu wenden bis hin zu den Gelegenheiten, an anderen Stellen zu schreiben; in Artikeln in der New York Times und für Parade, in Comics und einem  "Batman" Roman, in Kurzgeschichten für Medien wie Playboy und Esquire, und einer enormen Website (www.vachss.com), die mittlerweile mehr als 1,5 Millionen Besucher im Jahr verzeichnet, wurde mir die Möglichkeit gegeben, mein Evangelium von jeder denkbaren Kanzel zu predigen:

Kinderschutz ist Verbrechensverhütung.

Was ich (wenn überhaupt) für das Schreiben getan habe, ist an anderen zu beurteilen. Ich denke, dass das Urteil  unter den Einzelnen (und deren Prioritäten) variieren wird. Doch was das Schreiben für mich getan hat, ist unbestreitbar: es gab mir die Chance, einen Wandel herbeizuführen. Und ich werde immer versuchen, das meiste dabei herauszuholen.

© 2003 Andrew Vachss. Alle Rechte vorbehalten


Lest Andrew Vachss' Eintrag in Contemporary Authors, Volume 214, 2003.

 



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