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The Official Website of Andrew Vachss

 

Step on a Crack

von Andrew Vachss

Aus dem Amerikanischen von Michael Dewes

1
Als wir noch Kinder waren, war Bobby immer der Mutigste von uns allen. Er war der Erste, der von einem Ende unseres Viertels zum anderen über die Dächer lief. Ich erinnere mich, daß wir ihm folgten, alle in einer Reihe. Der letzte Sprung war der schlimmste - ein starker Wind wehte und es gab nicht genug Platz, um lange Anlauf zu nehmen. Bobby steckte sich eine Zigarette an und nahm einen Zug. Dann warf er das Päckchen auf die andere Seite. Er nahm einen weiteren Zug, dann schnippte er die Zigarette an der Hauswand vorbei nach unten.

"Ich werd' da eine rauchen, wo ich lande", erklärte er uns.

"Bobby, das ist zu weit" sagte Rodney.

Bobby lachte. "Das ist mir egal."

Man konnte sehen, dass es ihm egal war. Er sprang über die Lücke zwischen den Dächern, schraubte sich in die Höhe als sei das nichts.

Alle jubelten ihm zu, keiner tat es ihm nach.

Wenn ich damals gewusst hätte, wie man sowas ausdrückt, hätte ich gesagt, dass ich ihn liebe.

2
Bobby und ich waren damals zehn. Wir beide waren fast am selben Tag geboren worden. Bobby kam manchmal zu mir nach Hause. Manchmal erzählte er anderen Kindern sogar, wir seien Brüder.

Er war sehr mutig, aber er war auch grausam und böse. Einmal warf er eine Katze vom Dach. Außerdem war er ein großer Brandstifter.

Selbst als wir noch sehr klein waren, war er schon so. Sie kennen doch diese Spiele der Kinder ... ihren Aberglauben? Tritt' auf 'ne Lücke, brich der Mutter den Rücken? Eines Tages sah Bobby wie Joey den Gehsteig entlang hüpfte und nannte ihn ein Mädchen. Joey wurde sauer, aber er wollte nicht mit Bobby kämpfen. Niemand wollte das. Also erklärte er es Bobby ... er hüpfte nicht herum wie ein verdammtes Mädchen, er wollte nur sichergehen, dass seiner Mutter nichts zustößt.

Bobby meinte, das wäre in Ordnung. Er sagte sogar, es täte ihm leid, dass er Joey ein Mädchen genannt hatte.

3
Meine Mutter machte mir am nächsten Morgen heiße Schokolade. Das tat sie immer, wenn es kalt war.

"Jason, ich hab deinen Freund Bobby gesehen, als ich heute morgen aufstand. Er übte."

"Was übte er, Mom?"

"Weiß nicht genau... für mich sah es wie Himmel-und-Hölle aus."

Bobby hatte mir nichts über irgendwelche Übungen erzählt. Ich wusste, dass er nicht Himmel-und-Hölle spielte. Das taten nur Mädchen.

In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wusste, dass meine Mutter immer sehr früh aufstand. Manchmal war es draußen noch nicht einmal hell. Sie musste den Haushalt erledigen, bevor sie zur Arbeit ging. Am nächsten Morgen war ich noch vor Mom auf den Beinen. Ich sah aus dem Fenster, aber wir wohnten zu hoch oben, als dass ich irgendetwas hätte erkennen können. Ich zog meine Jacke über und ging hinunter. Bobby war da, genau wie Mom gesagt hatte. Er lief auf dem Gehsteig hin und her, aber er lief irgendwie seltsam, so, als sei er betrunken.

"Was machst du da, Bobby?" fragte ich ihn, als ich aus der Tür trat.

Er errötete. Einen Moment lang dachte ich, er würde auf mich losgehen.

"Das ist ein Geheimnis, Jason."

Ich ging zu ihm rüber. "Sag's mir, Bobby. Du weißt doch, dass ich's niemals erzählen würde. Du bist mein Kumpel."

"Du würdest es erzählen." sagte er.

Ich sagte gar nichts - ging einfach weg. Der Wind war sehr kalt - er trieb mir die Tränen in die Augen.

Ich hörte, wie er näher kam, drehte mich aber nicht um. Dann fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter.

"Tut mir leid, Jace."

"Bobby, ich hab nie was erzählt. Über gar nichts. Nicht mal das mit der Katze..."

"Sei still. Ich weiß. Ich hab doch gesagt, es tut mir leid, oder? Hör auf zu heulen."

"Ich heul nicht!"

"Tust du wohl!"

Ich schlug ihn ins Gesicht, und diesmal ging er auf mich los. Eine Zeitlang hielt ich mich ganz gut, aber er war stärker und schließlich hatte er mich am Boden.

"Gibst du auf?" Seine Faust schwebte über meinem Gesicht.

"Nein!"

Doch der Schlag kam nicht. Er ließ von mir ab. Kurz danach kam ich wieder auf die Beine.

"Das war ein Unentschieden", sagte Bobby. "Gleichstand. Okay?"

"Okay." sagte ich. "Kommst du mit hoch, 'ne Tasse Kakao trinken?"

4
Als wir oben waren, betrachtete Mutter meine Kleider und fragte, was passiert sei. Bobby erzählte ihr, ein paar Kinder hätten uns angegriffen und wir hätten mit ihnen gekämpft.

"Ich will nicht, dass du dich prügelst, Jason", sagte Mom. "Aber es ist schön, dass ihr beide so zusammenhaltet."

Sie wusch mein Gesicht und tat dieses orangefarbene Zeug auf die Kratzer. Dann wusch sie auch Bobbys Gesicht. Er versuchte nicht, sie davon abzubringen.

Nachdem Mom zur Arbeit gegangen war, aßen wir ein paar Kekse. Dann gingen wir in mein Zimmer, damit ich meine Schulklamotten anziehen konnte.

"Jason..."

"Was?"

"Weißt du, was ich da heut' morgen gemacht hab?"

"Du brauchst mir nichts..."

"Ich will, dass du es weißt. Irgendjemand sollte es wissen. Du bist mein Kumpel, hast du gesagt. Weißt du, was ich da draußen gemacht hab? Ich hab versucht, auf jede einzelne Lücke in dem verdammten Gehsteig zu treten."

Das war das Gemeinste, was ich jemals jemanden sagen hörte.

5
Später fragte ich meine Mutter danach. Sie sagte, das sei nur ein dummer Aberglaube - dass es nichts zu bedeuten hat. "Schätzchen, Bobby könnte das auf jedem Gehsteig der Stadt machen", sagte sie, "und dem Kreuz seiner Mutter würde überhaupt nichts passieren. Das ist nur so eine Redensart, es ist nicht wirklich so."

Mom und ich lebten alleine. Mein Vater wurde getötet. Im Krieg. Der dumme Krieg, so nannte ihn meine Mutter immer. Bobby erzählte den anderen Kindern immer, dass auch sein Vater im Krieg getötet wurde. Direkt neben meinem. Mir erzählte er, dass er nicht wusste, wer sein Vater war. Seine Mutter hatte immer irgendwelche Männer. Einen nach dem anderen. Ich fragte meine Mutter einmal, warum sie nicht auch Freunde hatte, so wie Bobbys Mutter. Mom sagte, vielleicht würde sie das eines Tages tun. Aber jetzt hätte sie für sowas keine Zeit.

6
Bobby begann zu der Zeit Schwule zu hassen, als ich herausfand, dass ich einer war.

Es gab einen Ort in der Nähe unseres Viertels, gleich am Fluss. Wir nannten ihn die Landungsbrücken, obwohl dort schon lange keine Schiffe mehr hinkamen.

Dort unten trafen sich die Schwulen. Es gab da ein paar leer stehende Gebäude. Manchmal machten sie es sogar draußen. Wenn man sich ganz leise anschlich, konnte man ihnen dabei zusehen.

Eines Nachts beobachteten Bobby und ich sie.

"Ich hasse sie", flüsterte er. Wie das Zischen einer Schlange.

Ich sagte, das täte ich auch, aber ich fühlte etwas in mir und wusste, das ich das nicht tat. Ich konnte es nicht.

Ich hatte Angst, aber ich wusste, ich würde es eines Tages probieren.

7
Es war kurz nach unserem vierzehnten Geburtstag, als Bobby eines Abends zu mir rüber kam. Er meinte, er hätte eine richtig gute Aufgabe für uns. Wir trafen uns im Keller. Sieben von uns. Bobby verteilte das Zeug, das wir dort unten gelagert hatten: Fahrradketten, Montiereisen, ein paar abgesägte Baseballschläger.

Wir dachten, die Uptown Tigers wären mal wieder auf dem Weg hierher, aber Bobby sagte, nein, das sei es nicht. Wir würden losziehen, um die Tunten aus unserer Gegend zu vertreiben. Wir würden sie zurückprügeln ins Village, wo sie hingehörten.

Wie eine Armee marschierten wir rüber zu den Landungsbrücken. Sie flüchteten, als sie uns sahen, aber für ein paar von ihnen war es zu spät. Wir möbelten sie ganz schön auf.

8
Joey verriet uns. Nicht, dass er das vorgehabt hätte, aber er hatte seiner Freundin die Geschichte erzählt. Die Polizei kam in unser Viertel und sackte uns alle ein.

Meine Mutter erwischte mich im Revier - allein. Sie fragte mich, ob es wahr sei. Ich versuchte, sie anzulügen, aber es hatte keinen Zweck. Nicht, dass sie mich geschlagen hätte oder sowas. Sie setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hände zitterten.

"Ich schäme mich so für dich", sagte sie.

Danach war mir egal, was mit mir passieren würde.

9
Wir mussten alle vor Gericht. Mein Anwalt trug lange Haare. Bobby meinte, er sei eine Tunte. Alle sagten aus, sie seien dort gewesen, an den Landungsbrücken, hätten aber nichts getan. Alle außer Bobby. Er erzählte ihnen, er hätte die Schwulen ganz allein aufgemischt. Er erzählte dem Richter, dass sie nicht in seine Nachbarschaft gehörten ... dass sie ihn ganz krank gemacht hätten.

Wir kriegten Bewährung - alle außer Bobby. Sie schickten ihn weg - upstate. Einmal fuhr ich mit dem Bus dorthin, um ihn zu besuchen. Er freute sich, mich zu sehen, bat mich aber, nicht noch mal zu kommen.

"Das sieht nicht gut aus, Jason", sagte er. "Wenn dich ein Mann besucht, verstehst du?"

Ich verstand nicht, sagte aber, ich würde tun, was er wollte.

10
Das war fast zwei Jahre bevor er zurückkam. Ich schätze, er war immer noch derselbe, nur ruhiger.

Bobby kam nie mehr zur Schule. Ich machte irgendwann meinen Abschluss. Mom wollte mich am College sehen, also schrieb ich mich in der City ein. Es gefiel mir nicht besonders.

Bobby kam ins Gefängnis, weil er einen Mann niedergestochen hatte. Eine Woche später hatte ich mein Coming-out. Als erstes erzählte ich es Mom. Sie war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie gab mir einen Kuss. Mein Freund wartete draußen vor der Tür. Er meinte, er wolle mit mir gehen, für den Fall, dass Mom es nicht so aufnehmen würde, wie ich es mir dachte. Aber sie bat mich, ihn nach oben zu bringen. Dann unterhielten wir drei uns.

11
Ich mogelte mich irgendwie durchs College, riss meine Kurse ab, aber die Sachen, die meine Freunde machen wollten, waren nichts für mich. Es fühlte sich einfach alles nicht richtig an.

Ich ging mit Dave die Christopher Street entlang, als ich Bobby das nächste Mal traf. Er war jetzt größer, trug ein rotes T-Shirt an seinem gewaltigen Oberkörper. Seine Arme waren voller Tätowierungen. Bobby ging schnurstracks auf uns zu, nahm uns die Luft weg, so, wie er es immer getan hatte. Er sah aus, als würde er uns gleich anspringen.

"Wir sehen uns gleich", sagte ich zu Dave, damit er uns allein ließe. Dave ist klein und sehr zierlich gebaut, aber er hat das Herz eines Pitbulls. Er sah Bobby direkt in die Augen. "Vielleicht sollte ich doch besser bleiben", sagte er.

"Ist schon okay", antwortete ich ihm.

Schließlich drehte er sich um und ging. Er war stinksauer. Ich hätte nicht sagen können, auf wen.

"Das bist du also jetzt?" fragte Bobby und streckte eine Hand aus, um den Ring in meinem rechten Ohr zu berühren.

"Ja."

"Warum, Jason?"

"Das liegt in den Genen, Bobby. Ich bin so geboren."

"Scheißdreck! Ich habe gesehen, wie ganz normale Typen in den Knast kamen und als Schwuchteln wieder raus gingen. Da drin machen sie ganz schnell 'ne Frau aus dir."

"Das ist nicht das gleiche."

"Klar. Das hätte ich nie von dir gedacht, Jason. Wir sind doch zusammen aufgewachsen."

"Bobby, ich bin immer noch derselbe Mann."

"Du bist überhaupt kein Mann. Freak! Sieh dir besser noch mal deine Ausrüstung an."

Ich versuchte, es ihm zu erklären, aber Bobby hörte überhaupt nicht zu. Schließlich legte er eine Hand an meine Brust, schubste mich ein wenig rum.

"Erinnerst du dich an unseren Kampf?" fragte er.

"Ja."

"Glaubst du, du würdest immer noch ein Unentschieden schaffen?"

"Nein, aber..."

"Aber was, Muschi?"

"Aber ich würd's immer noch versuchen."

Er bewegte seine Lippen wie bei einem Kuss, aber das Geräusch, das er von sich gab, war ein Knurren. Dann war er weg.

12
Dave warte im Café.

"Und, was wollte Mr. Macho?"

"Ein alter Freund..."

"Ah verstehe, und jetzt ist er ein Schläger."

"Dave, er ist kein Schläger."

"Sondern?"

Ich wusste es nicht.

13
Es war Dave, der mich davon überzeugte, zur Polizei zu gehen. Bevor er mir auf einer Party einen schwulen Cop vorstellte, hätte ich nicht gedacht, dass es in der Stadt überhaupt welche gibt. Der Mann hatte sich auch geoutet. Alles ganz öffentlich. "Sie werden dich testen", sagte er. "Ein paar von ihnen sind eiskalte Freaks, außer Dienst selbst Schwulenklatscher. Aber ich verspreche dir, du wirst dort Freunde haben."

Der schriftliche Test war einfach. Diese körperlichen Tests waren auch nichts besonderes. Außerdem gab es gar nicht so viel Ärger in dem Job. Zwei Kämpfe, einer davon ernsthaft ... aber ich versuch's immer und ich geb nicht auf. Als sie das sahen, war alles in Ordnung.

14
Eines Nachts fuhr ich Funkstreife mit diesem großen fetten Iren, Peters. Alle nannten ihn bloß Sarge. Er machte den Job schon seit Ewigkeiten - er war zu sehr Schläger und nicht genug Arschkriecher, um die Uniform gegen Zivilkleidung einzutauschen - das war meine Absicht, aber ich redete mit niemandem darüber. Wir mussten vier Stockwerke hinaufsteigen, um einem Anruf wegen häuslicher Streitigkeiten nachzugehen - die schlimmste Sorte von Streitigkeiten, meinte Peters.

Er hatte recht. Die Frau war halbtot geprügelt worden, wollte aber keine Anzeige erstatten. Es gab nichts, was wir hätten tun können.

"Erinnert mich an zu Hause", sagte Peters auf dem Weg nach unten. "Was ist mit deinen Leuten? Prügeln die sich auch auf die Tour?"

"Mein Vater starb im Krieg", sagte ich ihm.

"Darum würde dich so mancher beneiden", sagte er und zündete sich eine seiner wurstigen Zigarren an.

Ich kam nur drei Blocks weit, bevor er mich aufforderte, rechts ran zu fahren. An der Ecke war ein Laden, der nach der Sperrstunde noch geöffnet war.

"Ich brauch' was zu trinken", sagte er.

"Vielleicht sollten wir warten, bis wir aus dieser Gegend sind…"

"Ach was, sei nicht so ein verdammtes Weichei - wenn die Affen Krach schlagen, schmeiß ich ihnen 'ne Banane hin."

"Sarge, du weißt doch, dass der Chef uns nicht in den Clubs sehen will. Komm schon, wir..."

"Lass den Motor laufen, Junge", sagte er und stieg aus.

Ich saß da und wartete. Ich hatte meine Zigarette fast bis zum Filter geraucht, als ich den Schuss hörte. Ich rannte in den Laden. Sarge lag auf dem Boden, Gesicht nach unten, sein Rücken voller Blut. Ich stieg über ihn hinweg und landete in einer Dreiergruppe von ihnen. Einer davon hatte eine Machete - ich schoss ihn in die Brust. Etwas riss an meinem linken Arm. Sie drangen auf mich ein. Ich wich zurück, bis ich unmittelbar neben Sarges Körper stand, feuerte in die Richtung, wo sie sich hinter Tischen versteckten. Jemand schoss zurück. Mir gingen die Kugeln aus. Ich zog gerade meinen Gummiknüppel, als ich bemerkte, dass Sarge sich neben mir bewegte. Er kämpfte sich auf seine Ellbogen und zerrte seine Pistole raus. Ich schnappte mir die Waffe, feuerte weiter, während Sarge Notrufe in sein Funkgerät bellte.

Als die Cops aus dem Revier durch die Tür stürmten, war noch eine einzige Kugel in Sarges Waffe.

15
Im Krankenhaus wurde ich wach, ein roter Schleier um mich herum. Nach einer Weile verblasste er, wurde rosa und ich konnte die Schläuche erkennen, die in mir lagen. Ich wusste, ich würde leben.

Sarge saß neben dem Bett, sein Kopf ganz mit weißem Verband umwickelt. Er hatte eine "kleine Schädelfraktur", sagte er, und er musste mit ein paar Stichen in der Brust genäht werden. Er hielt zwei Metallklumpen hoch.

"Die da haben sie rausgeholt, mein Junge. Aus dir. Eine aus dem Arm, eine aus der Hüfte. Wenn du nicht wie ein braver kleiner Soldat deine Weste getragen hättest, wärst du jetzt schon beim Fleischbeschauer."

Ich sagte gar nichts - ich hatte so ein Plastikding in meinem Mund.

16
Ein paar andere Cops kamen. Ein paar Leute schickten mir Blumen. Der Bürgermeister war gerade lang genug da, um sich ein paar Bilder schießen zu lassen.

Sie brachten mich in ein großes Privatzimmer mit Fenster. Ich kam langsam wieder auf den Damm. Eines Tages besuchte mich Dave. Der Raum war voller Leute. Er lehnte sich über mein Bett und küsste mich auf den Mund. Einer der Cops kicherte. Dave lief rot an.

"Geh besser raus, wenn du was zu sagen hast. Oder sag's mir, wenn du dich traust."

Das war Sarge, er stieß seinen fetten Finger in die Brust des Cops. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er da war.

Danach wurde ich Detective. Ich merkte nicht viel davon - schönere Klamotten, das war so ungefähr alles. Aber Mom war wirklich stolz auf mich, als sie mir bei der Feier diese goldene Marke gaben. Dave war auch stolz.

17
Die erste Leiche fanden sie am Boden eines Fahrstuhlschachts - nackt. Der Pathologe konnte nicht sagen, ob der Fall ihn getötet hatte oder die Schläge. Beim nächsten gab es gar keine Zweifel - seine Kehle war aufgeschlitzt.

Als die Zahl der Opfer bei fünf angelangt war, setzte der Bürgermeister eine Spezialeinheit ein. Doch sie starben weiterhin, jeder einzelne von ihnen ein Schwuler.

An diesem Punkt brachte der Commissioner mich ins Spiel. Ich war undercover unterwegs, arbeitete in den Bars, aber das brachte nichts. Die Menschen erkannten mich - schließlich kommt nicht jeden Tag einer von uns mit Foto in die Zeitungen, weil er eine Schießerei mit Kriminellen hatte. Niemand versuchte auch nur, mich aufzugabeln.

18
Ich ging die Sache mit Dave durch. Der Killer arbeitete nicht in den Bars - er suchte sich seine Opfer einzeln aus, dann erledigte er seinen Job.

Es gab keine Briefe an die Zeitungen, keine Anrufe. Wir richteten eine Hotline ein und erhielten jede Menge Hinweise... aber bei keinem davon kam irgendwas rüber.

Mom lebt immer noch am selben Ort. Es würde sich nicht lohnen, umzuziehen - mit Mietpreisbindung und allem. Außerdem kennt sie alle Nachbarn, sie fühlt sich dort sicher. Jeden Donnerstag besuche ich sie, das hab ich nie versäumt. Manchmal begleitet mich Dave.

Ich war dort, als das Telefon klingelte. Als Mom sagte "Jason, es ist für dich", wusste ich, wer es war.

Vielleicht hatte ich es schon die ganze Zeit gewusst.

"Was gibt's?" fragte er, so als ob ich ihn angerufen hätte.

"Das weißt du", sagte ich.

"Ich bin müde", sagte Bobby. "Ich bin wirklich sehr müde."

"Willst du vorbeikommen?"

"Nein. Ich will nicht vorbeikommen, ich will, dass es zu Ende ist."

"Sag mir einfach, wo du bist."

"Wirst du es richtig machen, Jason? Nur du und ich?"

"Nur du und ich, Bobby", versprach ich ihm.

"An den Landungsbrücken. Morgen um Mitternacht."

"Da wo alles anfing."

"Es hat nicht dort begonnen", sagte er. Dann war die Leitung tot.

19
Zuerst wollte Dave nicht, dass ich gehe. Als er merkte, dass das nicht klappen würde, wollte er mich begleiten. Ich erlaubte es ihm nicht. Erzählte niemandem von dieser Sache.

Kurz vor Mitternacht betrat ich die Landungsbrücken. Sie waren jetzt leer und verlassen. Der Killer hatte allen eine Heidenangst eingejagt ... niemand war unterwegs - sie blieben in den Clubs. Fühlten sich in der Gruppe sicherer.

Auf einen der Pfähle war ein weißes Hakenkreuz gesprayt, darüber eine große 9. Neun Tote bisher. Egal, wer der Killer sein mochte, die Skinheads liebten ihn.

Ich ging auf das hintere Gebäude zu, das ganz allein am Rand der Landungsbrücken stand. Es war so still, dass ich das Plätschern des Wassers unter meinen Füßen hören konnte. Die Planken knarrten, der Raum zwischen einigen davon war groß genug, um hindurch zu fallen.

Tritt auf 'ne Lücke...

20
Die Tür war angelehnt. Im Inneren konnte ich ein flackerndes Licht erkennen. Eine Kerze, wie sich herausstellte. Eine gedrungene, weiße Kerze brannte auf einem Tisch. Direkt daneben ein brauner Schuhkarton.

"Bleib eine Minute da stehen, Jason."

Bobbys Stimme. Ich hielt die Hände an meine Oberschenkel, wartete.

"Wollte nur nachsehen, ob du wirklich allein gekommen bist", sagte er, als er aus dem Schatten trat.

"Wie ich's versprochen hab."

"Hast du den Platz umstellen lassen?"

"Nein."

Er steckte sich eine Zigarette an, gab mir das Päckchen. Ich machte mir ebenfalls eine an.

"Großer Held. Als ich upstate war, hab ich in den Zeitungen über dich gelesen. Meinst du, du könntest es jetzt mit mir aufnehmen?"

"Nein, Bobby. Damals nicht, und heute auch nicht."

"Ich hab dir ein Geschenk gekauft, Jason. Sieh mal in der Schachtel nach."

Ich nahm den Deckel ab. Ein paar Armbanduhren, ein Siegelring, ein ID-Armband, ein Freundschaftsbändchen, einige Papiere. Ich sah sie mir genauer an ... ein Führerschein. Eine Sozialversicherungskarte. Etwas, das aussah wie ein kleines, schwieliges Würstchen.

"Was ist das für'n Zeug?"

"Trophäen. Eine von jeder Schwuchtel, die ich aus dem Spiel genommen hab. Das kleine Ding in deiner Hand - das ist ein Finger. Die beschissene Tunte hatte keinen Fetzen am Leib, als sie kaltgemacht hab."

"Jesus, Bobby."

"Nach der Sache könnten sie dich zum Chief machen, was?"

"Weiß nicht."

Er zog an seiner Zigarette. Die Spitze glühte - sein Gesicht bestand aus nichts als Linien und Winkeln, ein fleischfarbener Totenschädel. "Warum hast du das gemacht, Jason?"

"Was gemacht?"

"Schwulwerden. Warum bist du wie die geworden?"

"Bobby, es gab gar keine Wahl ... Es ist halt so gekommen."

Er stand völlig unbeweglich da. Ich spürte, dass er mich beobachtete, konnte seine Augen aber nicht sehen.

"Fickst du auch mit Jungs, Jason?"

"Was!"

"Jungs. Kleine Jungs. Machst du das auch?"

Bei diesem Gedanken kochte Erbrochenes in meinen Mund hoch - das war das Widerlichste, was jemals jemand zu mir gesagt hat. "Bobby, bist du wahnsinnig? Wie kommst du auf sowas?"

"Das macht ihr doch, oder? Genau das."

"Bobby..."

"Als ich ein Junge war, ein richtig kleiner Junge, hat einer der Freunde meiner Mutter, dieser beschissenen Hure, es mit mir getan. Es tat weh. Wie ein Feuer in mir drin. Ich blutete. Als meine Mutter nach Hause kam, erzählte ich es ihr. Weißt du, was ich gekriegt hab, Jason? Eins auf die Fresse. Von meiner Mutter. Sie hat es gewusst. Als ich noch an Gott glaubte, betete ich um ihren Tod. Weißt du, mir ist das nicht passiert. Ich bin nicht schwul geworden. Ich bin ein Mann. Frag irgendwen nach meinem Ruf. Im Knast oder auf der Straße, du wirst überall dasselbe hören. Bobby Trainor, das ist ein Mann."

"Das warst du immer, Bobby."

"Yeah. Jedenfalls bin ich jetzt fertig. Zumindest fast fertig."

Er lief im Kreis herum, Hände an den Schenkeln. Dann sah ich die Waffe. Eine silberne Automatik. Er hob sie ins Kerzenlicht, damit ich sie sehen konnte.

"Ich war immer neidisch auf dich, Jason", sagte er.

"Auf mich? Warum?"

"Ich wünschte mir, ich hätte deine Mutter."

"Bobby..."

"Halt's Maul. Wir sind fertig. Wir machen 'nen Deal. Lass es uns klären. Du und ich. Du hast doch 'ne Waffe dabei, oder?"

"Ja."

"Nimm sie 'raus. Langsam."

Ich zog meinen Revolver, zeigte damit auf den Boden, so wie er es tat.

"Ich zähl bis drei, Jason. Wie im Film. Bei drei fang ich an zu feuern. Wenn ich dich umbringe, schnapp ich mir meine Schuhschachtel und verschwinde. Hast du einen Ring, Jason? Irgendetwas, das ich mitnehmen kann. Vielleicht nehm ich mir deine Marke. Deine hübsche Bullenmarke."

"Bobby..."

"Ich spiele nicht, Jason. Du weißt, dass ich nicht spiele. Wenn du mich erwischt, gehört das alles dir. Wenn nicht ... noch eine tote Schwuchtel wird die Dinge kaum ändern."

"Es gibt eine andere..."

"Eins!"

"Bobby, sei kein..."

"Zwei!"

Ich schloss meine Hand um den Revolver.

"Drei!"

Mein erster Schuss erwischte ihn im Bauch. Er ging in die Knie und hob die Pistole. Ich schoss wieder, zweimal. Er ging zu Boden, die Waffe fiel aus seiner Hand.

Ich kniete mich neben ihn, suchte nach dem Puls an seinem Hals.

"Du bist ein echter Mann, Jace", sagte er. Dann starb er.

Ich wartete auf die Sirenen, hielt Bobbys kalte Hand.

21
Sehr viel später stand ich neben Dave auf dem Balkon. Wir sahen auf die Stadt hinab.

"Gut, dass du deine Weste getragen hast", sagte mein Freund.

Ich antwortete ihm nicht, hielt nur seine Hand. Dachte über Bobby nach. Über unseren letzten Kampf. Darüber, was er gesagt hatte. Darüber, wie ich seine Waffe vom Boden aufgehoben hatte. Diese tödliche, silberne Automatik...sie war nicht entsichert.

 

"Step on a Crack" © 1992 by Andrew Vachss. All rights reserved.
© Deutsche Übersetzung Michael Dewes
für The Zero


 
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