Eine Leseprobe aus Die Schritte des Falken von Andrew Vachss
Bevor diese Geschichte anfing, glaubte ich, Morales zu kennen. Nicht so, wie man einen Menschen kennt, sondern wie man ein Tier kennt, seine Grenzen. Hunde können bissig sein oder lammfromm ... aber fliegen können sie nicht. So kannte ich Morales. Er war ein durchgeknallter, prügelnder, Vorschriften mißachtender, unbestechlicher Dinosaurier in Polizeiuniform, ein Tier der Straße. Er mochte Dealern in den Rücken schießen, würde aber niemals Geld von ihnen nehmen. „Er ist so ehrlich, dass er quietscht“, sagte McGowan mal. „Die Kameradenschweine von der Dienstaufsicht lassen dich in Ruhe, wenn du so jemand als Partner hast - sie wissen, dass er dich, egal, wie seltsam er ist, höchstpersönlich verhaften würde.“ Konnte ich mir Morales als Killer vorstellen? Klar. Unbedingt. Er stand so unter Hochspannung, daß er fast zersprang. Besonders viel würde nicht geschehen müssen, um ihn ausrasten, durchdrehen zu lassen. Da war nicht nur der psychiatrische Bericht. Wenn er mich früher unter Druck gesetzt hatte, war es immer ein Spiel. Macho-Gehabe, Rette-meinen-Tag-Scheiße. Er war feindselig, aber immer auf der sicheren Seite der Wut. Auf dem Parkplatz von Midtown hatte er den Siedepunkt weit überschritten. Vorher war er ruhig gewesen. Nicht in sich ruhend wie Max, aber immer noch bei sich. Niemand konnte so hin und her schalten. Es sei denn ... ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Morales war keine multiple Persönlichkeit - soweit ich das beurteilen konnte, besaß er nicht mal eine. Der weiße Drache baumelte in Mamas Fenster. Ich ging durch den Vordereingang rein, für den Fall, daß Morales zuschaute. Mama saß nicht hinter der Kasse - Immaculata hatte den Posten übernommen. Sie trug eines dieser Mondrian-Seidenkleider, die sie von Zeit zu Zeit anzieht. „Was gibt’s, Mac?“ fragte ich. „Mama ist hinten. Mit Flower. Unterrichtet sie. Ich kann überall arbeiten“, sagte sie, deutete mit ihren extrem langen Fingernägeln auf einen Papierstoß, wahrscheinlich Fallberichte ihrer Klienten. „Also habe ich gesagt, es würde mir nichts ausmachen, sie hier vorne abzulösen.“ „Wie läuft das Geschäft?“ fragte ich. „Es boomt“, antwortete sie. „Leider. Schwere Zeiten vergrößern nur den Streß - viele Familien am Rand der Gesellschaft flippen aus, wenn es zu schwer wird, Geld zu verdienen.“ Immaculata arbeitet mit mißbrauchten Kindern und - manchmal - mit deren Familien. „Mamas Geschäfte meinte ich eigentlich“, sagte ich, wollte jetzt nicht über Immaculatas Sachen reden. „Wer kennt schon Mamas Geschäfte? Sie lächelte. Ich ging nach hinten, suchte Mama. Nichts. Ich fragte zwei ihrer sogenannten Köche - sie sahen mich nur ausdruckslos an. Ich ging zum Keller. Einer der Köche hob die Hand zum Stoppzeichen. Der Bursche an der Hintertür sagte was auf kantonesisch. Der Koch, der mir den Weg versperrte, trat zur Seite. Am Fuß der Treppe entdeckte ich sie. Sie saßen an einem schwarzen Lacktisch, der auf Mamas Seite viel höher war als auf der des Kindes. Der Tisch war nicht schief - er hatte eine Stufe in der Mitte, wie eine Treppe. Ich ging leise rüber, wollte die reine Stille nicht stören. Auf Mamas Seite des Tisches stand nur eine schwarze Vase mit einer weißen Lilie. Sie stützte den Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn in der Hand, beobachtete Flower. Vor dem kleinen Mädchen befanden sich ein steinernes Tintenfaß, ein Block Löschpapier und einige Bögen schweres Büttenpapier. In der Hand hielt sie einen Elfenbeinstift. Beide schauten auf, als ich näher kam, und ich sah, daß sie gleich gekleidet waren, in passenden Kimonos aus pflaumenblauer Seide mit einem schwarzen Muster, das sich von der linken Brust bis zum Ärmel zog. „Entschuldigt, daß ich euch störe.“ Ich verbeugte mich leicht. „Schon in Ordnung“, sagte Mama und nickte. „Is fast Zeit für Pause. Du trink Tee, ja ?“ „Vielen Dank“, sagte ich. „Vielen Dank.“ Flower kicherte. „Meine Hand tut weh.“ „Woran arbeitest du?“ fragte ich das Kind und hockte mich so, daß mein Gesicht mit ihrem auf einer Höhe war. Ich erkannte sowohl Immaculata als auch Max in diesem Gesicht - und sagte lautlos danke, daß sie eindeutig mehr nach ihrer Mutter kam. „Kalligraphie“, sagte Flower ernst, sprach das Wort mit der ganzen Sicherheit ihrer sieben Jahre aus. „Sehr wichtig“, sagte Mama. „Zuerst von anderen, dann das eigene - so geht es.“ „Ich verstehe nicht ...“ „Wir lern Haiku“, erklärte Mama. „Sehr gut Disziplin. Sehr wichtig für Balance. Wir üb alte Methoden, um sie zu meistern.“ „Wenn ich richtig schreiben lerne, kann ich meine eigenen Worte schreiben“, sagte Flower, wiederholte stolz eine frühere Lektion. „Ja“, sagte Mama. „Haiku is Suche nach Perfektion. Jeder Mensch hab seine eigene. Ganzes Leben man arbeit daran. Perfektion is nichts, das man je erreicht ...“ „... es ist, wonach man strebt“, beendete Flower ihren Satz, ein breites Grinsen auf dem kleinen Gesicht. „Ja!“ Mama erwiderte das Lächeln des Kindes. „Ich dachte, Haiku wär was Japanisches“, sagte ich zu Mama. „Kopie“, fauchte Mama. „Kopie wie sie alles kopier. Alles alte Wissen is von Chinesen - die nur kopier.“ „Verstehe“, sagte ich leise, beendete schnell das Thema, bevor Mama in Fahrt kam. Dumm von mir, Mamas Vorurteile zu vergessen. Ich hatte Jahre gebraucht, um zu verstehen, daß Stammesstrukturen stärker sind, als Rassismus je sein kann. Das hab ich in Afrika gelernt, aber manchmal vergesse ich’s. „Welches Haiku schreibst du denn ?“ fragte ich Flower, schaute über ihre Schulter auf die exakten Schriftzeichen, die sie gemalt hatte, war überrascht, Buchstaben zu sehen. „Im Moment übe ich nur“, erklärte Flower ernst. „Damit der Stift und meine Gedanken eins werden.“ „Dies sehr altes Haiku“, sagte Mama und zeigte auf das Original, von dem Flower abschrieb. „Haiku is präzise. Immer fünf, sieben, fünf Silben. Muß auf Englisch genauso. “ Ich schaute über ihre Schulter. Die Worte waren auf Reispapier geschrieben, das älter aussah als ich. Geschrieben in einer exakten, kalligraphischen Handschrift. Mamas ? der Marder, pirschend Augen stets auf dem Grund, hört nicht des Falken Schritt „Du versteh?“ fragte Mama, beobachtete mich. Ich stand lange Zeit dort, betrachtete das Haiku, bis es vor meinen Augen verschwamm. „Ja“, sagte ich schließlich und verbeugte mich. Hatte erhalten, weswegen ich gekommen war.
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