Kindesmissbrauch:Eine tickende Bombe
von Andrew Vachss

veröffentlicht in Change: A Juvenile Justice Quarterly, Vol. V, No. 3, 1982 


  • Ein junger Mann sitzt in der Todeszelle, er erwartet die Todesstrafe für die Vergewaltigung und Ermordung eines 13 Jahre alten Mädchens. Ein Zeitungsartikel beklagt sich über das Versagen der Justiz, es scheint, als wolle sie seine Exekution endlos hinauszögern und alle legalen Möglichkeiten ausschöpfen. Dies auch in Bezug auf Kindheit und Jugend dieses jungen Mannes  die von einem andauerndem Kindesmissbrauch gekennzeichnet waren, den man nur noch als Folter bezeichnen kann. 

  • Eine 19 Jahre alte Prostituierte, die auf das „Dachsspiel“ spezialisiert ist ( hier wird das Opfer in ein Hotel gelockt und dort von dem Zuhälter geschlagen und beraubt), beschreibt, wie ihr Stiefvater sie für das Geschäft „eingeritten“ hatte. Als der sexuelle Mißbrauch entdeckt wurde, entfernte man das Mädchen „zu ihrem eigenen besten“ aus der Familie und brachte es in ein Heim. Der Stiefvater wurde in einem ambulanten Therapieprogramm in der Gemeinde untergebracht. 

  • Ein 15-jähriger Junge, der für den Mord an dem Mitglied einer verfeindeten Gang nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurde, erzählte dem Bewährungshelfer für dessen Bericht, daß seine Mutter ihn ans Bett fesselte, wenn sie nachts ausging; sein ganzer Körper war mit Narben übersät, da seine Mutter ihn mit einem Stromkabel schlug, um ihm „Benehmen beizubringen“, er erzählte, wie seine Mutter seinen jüngeren Bruder tötete, indem sie ihn in einem Kessel mit kochendem Wasser zu Tode brühte. Er erzählte, wie er in einer Kette von Pflegefamilien und Heimen war und dann sagte er: „Nun bin ich ein Mann, ich kann Leben machen und ich kann Leben nehmen.“

  • Und ein stolzer Kinderschänder, den man wegen einiger Fälle von sexuellem Kindesmißbrauch anklagte, wobei er die Kinder für zum Verkauf bestimmte Pornofilme mißbraucht hatte, sagte, daß die Kinder es genossen hätten. Er sagte verbittert: “ Ich dachte auch Kinder hätten Rechte.“ 

Wann werden aus den Opfern von gestern die Täter von Morgen? Wie oft muß sich die Jugendjustiz vor Scham winden wenn wieder einmal bekannt wird, das einige jugendlichen Mörder schon lange mit dem Justizsystem zu tun hatten, bevor es zu dem Verbrechen kam? Wieviele jugendliche Killer, die der Jugendjustiz schon lange bekannt sind, kommen auf ein ermordetes Kind, von dem die Sozialarbeiter schon lange wußten? Wann wird unser Berufsstand aufwachen und einsehen, daß die Medien hier von denselben Kindern berichten - nur in verschiedenen Stadien der „Entwicklung“? 

Die Jugendjustiz ist traditionell außergewöhnlich reaktiv und beantwortet die öffentliche Entrüstung und den Aufschrei der Gesellschaft mit dem Wohlwollen (einige würden auch sagen mit der Moral) einer tanzenden Kobra.
Dabei wurde der ernsthaft gewalttätige, gewohnheitsmäßige jugendliche Straftäter - offensichtliches Symbol für ihr Scheitern beim Schutz der Öffentlichkeit - bisher immer als ihrer Bemühungen unwürdig erachtet.
Durch seine bösartigen Taten hatte dieser Täter sein Recht, als Kind behandelt zu werden, verwirkt. 
Und die Legislative fiel übereinander her und stürzte sich kopfüber in die Beantwortung der Frage, wie man diese Bestie nach Erwachsenenstrafrecht „behandeln“ könnte. Lassen wir die Jugendjustiz mit Sachbeschädigung, Vandalismus, Autodieben und Diebstahl arbeiten. Um die Gewalttäter beurteilen zu können müssen wir das Strafsystem für Erwachsene zu Rate ziehen.

Aber warum sollten wir nach dem Erwachsenenstrafvollzug schielen? Wegen seiner langen Erfahrung in den rehabilitativen und humanen Diensten? Kaum. Der Erwachsenenstrafvollzug hat nur einen einzigen wirklich wichtigen Vorteil für die öffentliche Sicherheit: Solange er für die Gefangenen Verantwortlich ist, laufen sie nicht in unserer Mitte herum. Was versprochen wird ist ein Wegsperren, keine Rehabilitation. Für eine Öffentlichkeit, die gewaltsame Jugendkriminalität als schwerwiegendste Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität sieht, ist das genug.

Trotzdem geht diese „Lösung“ weit am eigentlichen Problem vorbei. Sogar mit der Betonung auf den Erwachsenenstrafvollzug für jugendliche Straftäter scheint es für die Öffentlichkeit und einige professionelle Beobachter klar, das jugendliche Kriminalität zunimmt (obwohl die statistischen Hinweise darauf alles andere als definitiv sind). Die Vorstellung des Bankrotts der Jugendjustiz bleibt weiterhin ungeprüft bestehen.
Was ist zu tun? 

„Kriminalitätsprävention“
Die politischen und öffentlichen Bedürfnisse abwägend hat der Berufsstand einen der größten Euphemismen erfunden: “Straftatprävention“. Wenn wir den jugendlichen Straftäter nicht behandeln können, bevor er in unserer Mitte auftaucht , mit blutigen Händen und mit einem Verstand, der sich liberalen Platitüden verschließt – dann müssen wir die Geburt eines solchen Menschen verhindern.  Wie alle euphemistischen Ansätze des sozialen Fortschrittes bietet das Konzept der Straftatprävention einen gewaltigen politischen Nutzen Einige der Vorteile: Es dauert viele Jahre, bis die Wirksamkeit der „Prävention“ gemessen werden kann, daher bleibt sie für eine vorhersehbare Zeit immun gegen Kritik, „Prävention“, so wie sie momentan praktiziert wird, gleicht einer Schrotflinte mit der ein derart breites Spektrum der Zielpopulation beackert wird das eine effektive Erfolgskontrolle unmöglich ist. “Prävention „ entspricht der Investorenmentalität der Öffentlichkeit, die nur zu gerne daran glauben will, daß „die Dinge schon besser werden“; dabei ignorieren sie völlig  die Gegenbeweise die uns umgeben. „Prävention“ erlaubt es uns, immer weiter von der brutalen Realität jugendlicher Gewalt abzulenken, während „betroffene“ Sozialarbeiter sich auf immer jüngere Bevölkerungsanteile konzentrieren. Letztendlich kann nahezu jedes Programm, ganz egal, wie realitätsfern und verdienstlos es auch sein mag, sich in den wahrhaft kosmischen Rahmen der „Prävention“ einfügen.

Trotz dieser negativen Aspekte ist das Konzept der Prävention viel zu attraktiv, als das man es einfach über Bord werfen könnte. Wenn wir uns darauf konzentrieren, wo wir die Prävention beginnen, welche Bevölkerungsgruppe wir als Ziel der Prävention nehmen und wer die Entscheidungen fällt, gelangen wir zu einigen unvermeidlichen Schlüssen. Es gibt keine Gewaltprävention ohne Intervention gegen frühen Kindesmißbrauch. Und es gibt keine Hoffnung auf eine effektive Intervention ohne ein vereinheitlichtes Hilfssystem für Kinder, das über Staatsgrenzen hinausgeht. Es gibt Leute, die argumentieren, daß alle präventiven Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind, einfach, weil sie sich auf ihre Fähigkeit, zukünftiges Verhalten vorherzusagen, verlassen. Diese Fähigkeit müssen Kriminologen allerdings erst noch erwerben. Unsere Antwort darauf: Wir würden erst dann intervenieren (um "Straftaten zu vermeiden"), wenn ein Gerichtsurteil bezüglich des Mißbrauchs oder der Vernachlässigung eines Kindes gegeben wäre.

Diese Zusammenhänge lassen sich am besten anhand der öffentlichen Instituionen belegen; in bestimmten Fällen unterstützt gerade deren Zusammenwirken die Entstehung jugendlicher Krimineller. Ungeachtet des juristischen Aspektes haben diese Systeme ähnliche Namen: Department of Social Services, Child Protection Services, Youth and Family Services, Department of Youth Services. Die Namen sind ebenso wie die Spiele, die diese Institutionen spielen, austauschbar. Ein Kind, das in frühester Kindheit brutal mißbraucht wurde, wird von den etablierten sozialen Diensten wie ein „Quasi-Opfer“ behandelt. Den Begriff „Quasi-Opfer“ habe ich gewählt, um die Reaktion eines Systems zu beschreiben, das Mißbrauch als einen Teil der Familiendynamik betrachtet, und seine Rolle darin sieht, diese Familie zu rehabilitieren.
Das folgende Beispiel wird diesen Punkt näher beleuchten.

Angenommen, das Büro eines Sozialdienstes erhält einen Bericht über den Mißbrauch eines Kindes. Wenn diese Leute jetzt entscheiden, daß die Eltern des Kindes das Kind zwar mißbrauchen, die Prognose für eine eventuelle „Rehabilitation“ der Eltern sich jedoch durch einen Gerichtsprozeß verschlechtern würde, dann kann diese Behörde ohne eine externe Überprüfung, und ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, ganz beliebig mit dem Fall verfahren. Die Behörde wird beschließen, daß auf dem von ihr gewählten Weg, die Interessen aller, sowohl die der Eltern als auch die des Kindes gewahrt sind. Dabei ist der gewählte Weg, durchaus im Interesse der Eltern, nicht notwendigerweise auch im Interesse des Kindes. Trotzdem unterliegt eine solche Entscheidung keinerlei Kritik. Die "Fakten", die die Behörde im Rahmen ihrer eigenen Untersuchungen gefunden hat, müssen sich niemals als begründet beweisen. Selbst der Verlauf der gewählten Behandlung wird von den denselben Leuten beurteilt, die sie durchführen. Das Kind bleibt weiterhin ohne Repräsentanten.

Wenn (nicht falls) dies geschieht, erhält das Kind eine kristallklare Botschaft: Deine Mißbraucher sind mit ihrem Verhalten schon in Ordnung, sogar der starke Staat hat letztendlich sein Einverständnis damit besiegelt. Jede Vorstellung, die dieses Kind über Wahrheit, Gerechtigkeit und Gleichheit entwickelt hat, wird so massiv angegriffen. Ein Kind, das sehr früh lernt, daß es von der Gesellschaft weder Schutz noch Gerechtigkeit zu erwarten hat: Wie wird die Reaktion eines solchen Kindes auf die gequälten Schreie eben dieser Gesellschaft sein, wenn einige ihrer Individuen einen zunehmend normalen Status einnehmen - den des „Opfers“?

Die Sozialbehörden und die Jugendjustiz kämpfen theoretisch im selben Krieg. In der Theorie sind wir alle Teil eines Prozesses, in dem die Kinder beschützt werden, wir alle vertreten dieselebe Philosophie: Der Schutz der Kinder von heute bedeutet den Schutz der Gesellschaft von morgen.
Aber diese beiden Flügel, die gemeinsam eine Möglichkeit finden sollten, den körperlichen und seelischen Schutz von Kindern sicherzustellen, ignorieren in Wahrheit die Existenz des jeweils anderen. Anstatt diese Grenzen aufzuheben, blamieren wir uns und erreichen gar nichts.

Das Verschieben des „schwarze Peters“ in der Bürokratie muß aufhören: Es darf nicht sein, daß ein gefoltertes Kind in seiner gefährlichen Umgebung bleiben muß, weil ein Mangel an passenden Alternativen besteht. Das Inzestopfer muß vom System emotionale Unterstützung erfahren, von demselben System, das heute noch allzuoft den Fortgang des Mißbrauchs erlaubt, weil eine Inhaftierung des Brötchengebers die „Zahl der Sozialhilfeempfänger erhöhen würde“.
Kinderprostitution darf nicht länger als „Verbrechen ohne Opfer“ bezeichnet werden, Verkauf und Vermietung von Kindern zu sexuellen Zwecken muß endlich als der Genozid bestraft werden, der er ist! Wir sollten eine Jugendgewaltprävention, die erst ansetzt, wenn der Jugendliche bereits ein praktizierender Krimineller ist, nicht länger tolerieren.

Es ist an der Zeit für einen umfassenden Schutz für alle Kinder. Die Zeit ist reif für den Zusammenschluß der Kinderschutzbehörden (wie auch immer sie heißen mögen), damit diese ihre Ressourcen zusammenlegen und das Gerede zugunsten von Ergebnisse einstellen können. Diese neue Profession (die, unberührt von den sozialpolitischen Philosophien der Beteiligten, eine Judikative beinhalten muß, um irgendeine Bedeutung zu erhalten) würde die Verantwortung für alle Kinder übernehmen, unabhängig von deren Status.

Es ist an der Zeit einige realistische Vorgaben zu machen, an denen sich die Behörden orientieren müssen.(Ich beziehe mich nicht auf diese lächerlichen Listen, die in Massen produziert werden von sogenannten „Think Tanks“ mit genügend politischem Einfluß, Zuwendungen der Regierung zu erhalten.) Zum Beispiel sollte die Entscheidung, ob ein Kind aus einem mißbrauchenden Elternhaus entfernt wird, von klaren Kriterien abhängig gemacht werden, und nicht der persönlichen Philosophie eines Sozialarbeiters überlassen werden. Wir müßten deutlich machen, daß Individuen, die ihre Kinder mißbrauchen, weil sie mit bestimmten Stresssituationen in ihrem Leben nicht fertig werden, gute Kandidaten für eine gesamtfamiliäre Behandlung sind. Diejenigen aber, die ihre Kinder zu ihrem persönlichen Vergnügen oder Nutzen mißbrauchen sind es nicht. Ist eine Jugendfürsorge, die sich an den Kindern vergeht, indem sie diese Tatsache ignoriert nicht ebenso schuldig an dem Mißbrauch wie die mißbrauchenden Eltern? Und ist ein Elternteil, das seine Kinder sexuell mißbraucht, der Gesellschaft gegenüber nicht ebenso schuldig geworden wie jemand, der eine Bombe baut und in einem vollbesetztem Wohnhaus deponiert?

Wir können weiterhin die Beweislast professioneller Studien ignorieren, wie z.B. die kürzlich vorgestellte Untersuchung des National Institute of Mental Health, nach der viele Patienten, die als Schizophrene diagnostiziert und behandelt wurden, multiple Persönlichkeiten entwickelten, um sich von fortgesetztem frühem Kindesmißbrauch zu distanzieren. Wir können die Zusammenhänge zwischen sexuellem Mißbrauch von Kindern und Prostitution ignorieren. Wir können aber nicht unsere eigenen Gefühle und Erfahrungen ignorieren. Wie Charles Manson sagte: "Ihr könnt mich in den Augen Eurer Zehnjährigen sehen." Gibt es noch irgendeine Frage danach, welchen Teil unserer jugendlichen Bevölkerung er mit dieser Horrorprophezeiung meinte? Einzig die Menschen unter allen Lebensformen foltern ihre eigenen Kinder. Und Kindesmissbraucher sind die einzigen Kriminellen, die ihre Opfer selbst ins Leben setzen.

Das Konzept der „Straftatprävention“ ist nicht notwendigerweise eine Lüge.Doch wenn die Jugendjustiz weiterhin versucht unabhängig von den in allen Staaten der Union bestehenden (wenn auch nicht funktionierenden) Kinderschutz-Netzwerken zu arbeiten, kann es nichts anderes als eine Lüge sein. Der gegenwärtige Bankrott der Kinderschutzbehörden zeigt uns sowohl Probleme als auch Möglichkeiten. Vielleicht wird unsere Verzweiflung uns erstmals dazu bringen, ein System aufzubauen, in dem die von allen angestrebte perfekte Dualität erreicht ist: Die Kinder zu schützen, damit uns alle zu schützen.

Das Rätsel der Jugendjustiz
Was ist der Unterschied zwischen einem Elefantenbaby und einem Babyalligator?

Ein Elefantenbaby kann sich, abhängig von seinem Training und seiner Behandlung, in viele verschiedene Richtungen entwickeln: Er kann in vielerlei Hinsicht ein wertvoller Partner sein: Bei der Arbeit, als Zirkuselefant das Publikum unterhalten, er kann aber auch zum brutalen Raubtier werden, dessen einzige Freude es ist, Menschenschädel zu zertreten.

Der Babyalligator verlässt das Ei als tödlicher Killer, er existiert nur zu diesem Zweck und wartet nur auf seine volle biologische Größe, um zuschlagen zu können. Er kann nicht umtrainiert werden und wird seine gewalttätige Linie von der Geburt bis zum Tod verfolgen.

Diejenigen von uns, die in der Jugendjustiz arbeiten, betonen das wir es mit Babyelefanten zu tun haben. Die Öffentlichkeit glaubt immer mehr, daß wir mit Babyalligatoren arbeiten. Wenn wir endlich anfangen, bei Kindesmißbrauch und Vernachlässigung in der frühesten Kindheit zu intervenieren, und somit Gewaltprävention nicht mehr rhetorisch sondern wissenschaftlich betreiben, dann könnte diese Unterscheidung zwischen Elefantenbabys und Alligatorbabys bald hinfällig werden.

 


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