Ein Auszug aus Vorwort Die meisten Menschen werden in eine Familie hineingeboren und bekommen von ihr die entscheidenden Prägungen. Auch wenn wir als Jugendliche unsere Eltern kritisieren mögen oder sogar ganz mit ihnen brechen, wir können nicht verhindern, daß wir inzwischen mehr oder weniger stark von diesen ersten Prägungen beeinflußt sind. Spätestens wenn wir selber Kinder haben, wird uns dies bewußt. Viele Menschen machen sich keine Gedanken darüber. Sie wiederholen einfach mit ihren Kindern, was sie selber erfahren haben, und halten dies für durchaus angemessen. Manche aber leiden darunter, wenn sie eines Tages mit Erstaunen feststellen, daß ihnen gerade ihren Kindern oder ihren Partnern gegenüber am meisten die innere Freiheit fehlt, die sie sich seit ihrer Jugend so sehr gewünscht haben. Es mag sein, daß sie dann das Gefühl bekommen, sie würden sich in einer Sackgasse befinden. Als Kinder fanden sie nicht heraus. Sie hatten keine andere Wahl, als sich ihrer Umgebung und deren Beeinflussung zu fügen, und als Erwachsene wissen sie häufig nicht, daß sie Alternativen haben. Denn so sehr wir auch von unserer Herkunft, unserer Vererbung und unserer Erziehung geprägt sein mögen, im Negativen wie auch im Positiven, als Erwachsene können wir diese Prägungen allmählich erkennen. Dann brauchen wir nicht wie Automaten zu handeln. Je deutlicher sie uns bewußt werden, desto besser werden wir uns aus unserer Sackgasse befreien und neue Informationen aufnehmen können. Die Wege dieser Befreiungen sind sehr unterschiedlich, so zahlreich wie die einzelnene Schicksale. Einige dieser Schicksale erzählen die folgenden Geschichten. Sie sollen unter anderem aufzeigen, wie die Spuren der Kindheit uns nicht nur in den Familien, die wir als Erwachsene gründen, begleiten, sondern auch wie sie sich im ganzen Gefüge des gesellschaftlichen Lebens manifestieren. In den abzuschließenden Reflexionen befasse ich mich mit der Frage, ob und wie wir lernen könnten, die Entstehung von Haß besser zu verstehen. Wie der Erwachsene seine Kindheitsgeschichte in sein Leben integriert, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Doch was und wie auch immer der einzelne für sich entscheidet, die heute in vielen Kreisen einsetzende Sensibilisierung für die in der Kindheit erlittenen Schäden ist für die Gesellschaft ein Gewinn. Denn Kindesmißhandlungen wurden immer verübt und sind auch heute noch verbreitet. Aber erst jetzt beginnen die Opfer sich Rechenschaft darüber zu geben, was ihnen geschehen ist, und sie fangen an, mit anderen Menschen über die Folgen zu sprechen. Themen, die bisher kaum berührt wurden, rücken jetzt ins Zentrum der Gespräche, die vielen Menschen neue Perspektiven eröffnen und Aussichten auf ein erfüllteres Leben erschließen. Das ist mir kürzlich bei der Lektüre eines Buches aufgegangen. (1) Vierzehn Väter, die wegen sexuellen Mißbrauchs bestraft worden waren und im Gefängnis längere Zeit an einer gut strukturierten Gruppentherapie teilgenommen hatten, erzählen in diesem Buch ihre Geschichten. Es ist ermutigend, zu sehen, wie schnell sich die Denkweise dieser Menschen geändert hat, nachdem sie zum erstenmal über ihre Not sprechen konnten, sich verstanden und aufgenommen fühlten. Wie zu erwarten, tauchen in all diesen Geschichten schwere Entbehrungen in der Kindheit auf, die mit sexueller Ausbeutung als Ersatz für die fehlende Liebe getarnt wurden. Was ich als ermutigend bezeichne, ist die Verwandlung dieser Männer allein schon durch die aufklärenden Gespräche. Sie haben dreißig, vierzig, fünfzig Jahre lang gelebt, ohne jemals die Möglichkeit gehabt zu haben, das, was sie in ihrer Kindheit erleiden mußten, in Frage zu stellen oder es sogar als ein Unrecht zu erkennen. Ganz selbstverständlich haben sie ihren Kindern das gleiche Leid zugefügt, das ihnen angetan wurde. Von diesem Zwang konnten sie sich nicht befreien, solange ihnen die Zusammenhänge nicht klar waren. Heute erst sind sie fähig und bereit, Verantwortung zu übernehmen, weil sie ihr Kindheitsschicksal nicht länger als gegeben betrachten, sondern als Unrecht erkennen können und damit einhergehend lernten, darüber zu trauern. Diese Entwicklung zur Kritikfähigkeit hat sie nicht ins Selbstmitleid getrieben, im Gegenteil, sie haben aufgrund ihres eigenen Leidens gelernt, Empathie für ihre Kinder zu entwickeln und zu erkennen, daß sie sie für ihr weiteres Leben geschädigt haben. Sie versuchen, die Schäden zu beheben, soweit es geht, wissen aber, daß viele irreversibel bleiben werden. Nur manchen freilich ist es bereits gelungen, aus dieser Sackgasse herauszukommen, anderen noch nicht. Die Figuren dieses Buches habe ich erfunden. Mit der Zeit erhielten die Geschichten eine eigene Dynamik, was mir erlaubte, das, was ich in den letzten Jahren gelernt und verstanden hatte, in einer anschaulichen Form weiterzuentwickeln. Die in diesem Buch beschriebenen Menschen sollen auf keinen Fall Vorbilder sein. Sie erzählen einfach, was ihnen widerfahren ist und wie sie damit fertig wurden oder eben nicht. In den Beschreibungen ihrer Schicksale und ihrer Umgebung entschied ich mich dafür, Äußerlichkeiten auf ein Minimum zu beschränken, um statt dessen die Beziehungen der Personen zueinander ausführlicher zu schildern. Es gibt kein Rezept dafür, wie man sein Leben in Ordnung bringen kann. Welche Ziele wir haben und welche Möglichkeiten, sie zu verwirklichen, variiert von Mensch zu Mensch. Auch wenn es uns in der Kindheit nicht immer möglich war, unser ganzes Potential zu entwickeln, auch wenn die Spuren früherer Ängste, Unsicherheiten und Entbehrungen uns begleiten mögen, vieles läßt sich doch zum Besseren verändern, weil unser Bewußtsein sich erweitert hat. Und nicht zuletzt auch dank Begegnungen mit fühlenden Menschen, die bereits das Glück hatten, in Liebe und Respekt aufgewachsen zu sein, als Kinder unbeschwert Lust und Freude zu erleben, und die daher später ein leichteres, glücklicheres Leben führen konnten. Zu diesen Menschen gehören in meinen Geschichten vielleicht in erster Linie Daniel, Michelle, Margot, Luise, ja sogar Gloria. Sie können zuhören, am Schicksal des anderen teilnehmen, sind zugewandt, wollen verstehen und sind gewöhnlich weniger Täuschungen ausgesetzt als manche ihrer Gesprächspartner. Da sie selber als Kinder viel Liebe erfahren haben, kommen sie mit ihrem Leben besser zurecht als die, die mit Illusionen großgezogen wurden und später um ihre Wahrheit kämpfen mußten wie zum Beispiel Claudia, Sandra, Anika, Helga oder Lilka. Der erzählende und assoziative Stil dieses Buches sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mein Anliegen über die Fragen der einzelnen Schicksale hinausgeht und zu allgemeinen Fragen führt, vor allem zu der Frage: Wie wirken sich die ersten Erfahrungen von leid und Liebe auf das spätere Leben des Menschen und auf sein Zusammenleben mit anderen aus? Es gibt bereits Forschungen, die sich auf Teilgebiete beziehen, die die Beantwortung dieser Frage umfassen würde, wie z.B. Beobachtungen vom Leben im Uterus, von Neugeborenen und Säuglingen; Biographien von Tyrannen, Statistiken der Genozide etc. Doch meines Wissens gibt es bis heute keine Forschungseinrichtung, die die bereits vorliegenden Daten unter dem Gesichtspunkt der Kindheitserlebnisse der agierenden Menschen untersuchen würde. Zu solchen Forschungen wollte ich mit meinen Geschichten und meinen Reflexionen anregen. © Alice Miller Besucht Alice Miller's website: http://www.naturalchild.com/alice_miller/index.html. |
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