Trojanische Pferde

Dress-Up Day

von

 Andrew Vachss


Ich bin ein Einzelkind. Als ich sehr klein war, dachte ich, ich wäre das einzige Kind auf der Welt, weil ich nicht wusste, dass da noch andere waren. Als ich schließlich auf die Schule kam, erzählten mir einige Kinder aus großen Familien, wie glücklich ich sei. Ein Einzelkind zu sein. Sie wären so viele Kinder in ihrer Familie, dass sie kaum einmal etwas Aufmerksamkeit bekämen, oder etwas Zeit für sich hätten. Ich sagte ihnen nie die Wahrheit. Ich nickte nur, als ob ich verstand, was sie sagten.

Viele Kinder dachten erst, ich wäre dumm, weil ich oft nickte, wenn sie redeten. Aber die Lehrer wussten es besser, weil ich schneller lesen und schreiben konnte – ich meine, ich lernte schneller lesen und schreiben als die anderen Kinder. Auch in Mathe war ich schneller.

Ich verstand, was die anderen Kinder sagten. Darüber, ein Einzelkind zu sein. Damals wusste ich längst, dass ich nicht das einzige Kind war. Und ich hörte den anderen Kindern zu, also wusste ich, dass wir nicht alle gleich waren. Aber selbst die, die sich in mir täuschten, hatten zum Teil recht. Ich hatte eine Menge Zeit für mich. Selbst als ich sehr, sehr klein war. Ich erinnere mich an meine Zeit alleine. Ich weinte und schrie nach meiner Mutter, doch sie kam nicht. Erst als ich älter war, verstand ich, dass sie nicht kommen würde. Sie war nicht mal zuhause. Wenn sie zuhause war, hatte sie meist einen Mann bei sich. Sie wollten mich nicht sehen. Wenn ich mich nicht blicken ließ, war ich okay. Wenn sie mich sahen, tat mir einer von beiden weh, gewöhnlich sie. Einmal, da sagte dieser Mann – ich erinnere mich nur daran, dass er rote Haare hatte – zu meiner Mutter, sie solle mich nicht schlagen. Er sagte, ich wäre noch ein Baby und ich wolle meine Mutter. Das wäre etwas Natürliches, meinte er. Meine Mutter sagte ihm, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Sie sagte, ich wäre nicht sein Kind, also halt verdammt nochmal die Fresse. Da schlug der Rothaarige sie. Richtig fest - - sie flog hin. Er packte sie bei den Haaren, zog sie nach hinten und schlug sie nochmal. Er fragte sie, hat sich das gut angefühlt? Hat dir das gefallen? Meine Mutter leckte sich über die blutigen Stellen ihrer Lippen und sagte etwas zu dem Mann, das ich nicht verstand. Sie kniete. Der Mann drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Er kam nie wieder. An diese Nacht erinnere ich mich besonders gut. Es war das erste Mal, dass meine Mutter mich mit einer Zigarette verbrannte.

So ging es weiter, bis ich aufhörte, dumm zu sein. Ich musste mit ihr in dem Haus leben. So war das Gesetz. Aber ich hielt mich fern von ihr. Und sie kam nicht in mein Zimmer im Keller, solange ich keinen Lärm machte. Ich hatte ganz gute Noten und ich las viel. Ich wusste, die einzige Antwort war, richtig stark zu sein. Ich probierte eine Menge Dinge aus, um stark zu werden, aber keines davon klappte. Einmal fragte ich die Schulkrankenschwester: Wie kommt es, dass ich kein bisschen größer werde, wenn ich Gewichte stemme und so? Sie wirkte sehr traurig. Sie war sehr nett. Ich erinnere mich nicht, was sie sagte, an kaum etwas davon. Aber ich merkte mir eines der Worte und schlug es nach: Mangelernährung. Seit ich richtig klein war. Bevor ich mir selbst Essen beschaffen konnte.

Alles änderte sich, als ich dreizehn wurde. Ich wurde größer. Nicht so groß wie einige von den Kindern, aber ich war nicht der Kleinste, nicht mal annähernd.

Im Jahr darauf, ich bin mir nicht sicher, warum, wurden Mädchen sehr wichtig. Verschiedene Jungs machten verschiedene Dinge, um Freundinnen zu kriegen. Ich konnte gar nichts. Ich war nicht gut im Basketball, ich konnte nicht tanzen, und kämpfen mochte ich auch nicht gern. Und natürlich hatte ich nie Geld, um mir schicke Klamotten zu besorgen oder Mädchen Geschenke zu kaufen.

Da hatte ich die Idee mit dem Stehlen. Ich las darüber alles, was ich kriegen konnte. Studierte es. Dann fing ich an. Ich nahm nur Geld. Bargeld. Nichts anderes. Manchmal brach ich nachts in ein Haus ein und es gab dort kein Geld. Das war okay. Ich wusste, das kam vor. So wäre es auch, wenn jemand in das Haus meiner Mutter einbräche, vermute ich.

Ich gab das Geld nie aus. Ich meine, ich gab nie viel aus. Damit keiner was merkte. Aber ich hatte immer was. Genug, meine ich. Ich kaufte mir ein paar schickere Klamotten. Aber ich hatte immer noch viel Geld übrig. Und die ganze Zeit über dachte daran, stärker zu werden. Meine Mutter schlug mich nicht mehr, tat mir nicht mehr weh, aber manchmal tat es einer ihrer Männer, wenn sie ihn darum bat. Also gab ich das meiste von meinem Geld dafür aus, stärker zu werden.

Ich weiß nicht, wie das mit Darla passierte. Sie war in meiner Klasse und so. Ich kannte sie seit Jahren. Nicht richtig gekannt, aber ... nun, es ist eine kleine Schule und ich schätze, ich kannte so ungefähr jeden. Ich ging nie mit einem von den Mädchen hoch. Aber Darla stellte mir einmal eine Frage. In der Bücherei. Und ich redete mit ihr. Nach einer Weile sagte sie, sie wäre ziemlich durstig, also fragte ich sie, ob ich ihr eine Limonade kaufen kann, und sie sagte ja.

Danach ... passierte es einfach. Ich weiß nicht, wie. Aber es war die beste Sache auf der Welt. Darla war meine Freundin. Nicht nur meine heimliche Freundin. Jeder wusste es. Ich kaufte ihr viele schöne Dinge. Einmal meinte sie, ich solle das nicht tun. Ihre Eltern machten sich Sorgen, sagte sie. Sie war gerade vierzehn und sollte nicht so teures Zeug bekommen. Es war nur ein CD-Player, aber ich schätze, es machte sie nervös. Also hörte ich damit auf. Ich lernte ihre Eltern kennen und so. Nachdem sie mich kennengelernt hatten, mochten sie mich. Ich erzählte ihnen, ich hätte das Geld für den CD-Player durch Rasenmähen und Autowaschen und solche Sachen verdient, die andere Kids, wie ich wusste, machten. Ich erzählte ihnen, ich hätte gespart. Sie meinten, das wäre gut, aber ich sollte nicht so viel Geld für ein Mädchen meines Alters ausgeben. Ich sagte in Ordnung, und sie lächelten.

Ich kaufte Darla ein Namenskettchen. Sterling Silber. Sie konnte es nur in der Schule tragen, weil ihre Eltern sich sonst aufregen würden, aber das war okay. In der Schule trug sie es immer, und jeder wusste, dass es von mir war.

Ein paar Mal sagten ihre Eltern, ich würde vielleicht zu viel Zeit mit Darla verbringen. Riefe sie zu oft an. Ich schätze, sie hatten vielleicht recht. Doch ich wollte die ganze Zeit mit ihr zusammen sein. Ich sagte trotzdem, sie hätten recht, und sie fühlten sich wohler. Das konnte ich sehen.

Darla und ich würden sowieso eines Tages heiraten, und dann wäre ich die ganze Zeit mit ihr zusammen.

Ich weiß nicht, wer es war. Ich weiß nicht, wer schuld ist. Vielleicht war es die Schulpsychologin. Ich entdeckte meine Akte, die sie führte. Ich war nicht wirklich neugierig, sondern bin zuvor schon in die Schule eingebrochen. Viele Lehrer lassen Geld in ihren Schreibtischen. In meiner Akte hieß es: STÖRUNG DER BINDUNGSFÄHIGKEIT. Und sehr oft die Worte „ungesunde Beziehung." Über mich und Darla. Also war es die vielleicht Psychologin. Möglicherweise auch Darlas Eltern. Aber ich weiß, dass sie das nicht gesagt hatte – dass sie nur Verabredungen haben wollte und was mit anderen Jungs unternehmen und dass das mit uns vielleicht zu eng war, und sie zu jung, um eine Bindung einzugehen. Ich weiß, Darla würde sowas nie sagen. Es sei denn, jemand hatte das von ihr verlangt.

Ich sagte nichts. Am nächsten Tag ging ich nicht in die Schule. Ich musste nachdenken.

Heute ist Freitag. Der letzte Freitag im Monat. Das ist in der Schule der Dress-UP Day. Die Mädchen dürfen Make-up tragen und hochhackige Schuhe, und die Jungs dürfen Anzüge und so tragen. Einige der Jungs machen nicht mit, aber alle Mädchen. Ich wusste, Darla würde sich richtig herausputzen, aber ohne mein Armband. Das hat sie mir zurückgegeben. Ich habe es bei mir. Ich habe es immer bei mir.

Ich werde mich auch herausputzen. Ich habe eine vollständige Garnitur Tarnklamotten gekauft. Und ein M-15-Gewehr. Es sieht genau wie die aus, die sie in Vietnam benutzt haben, aber es feuert nicht vollautomatisch – man muss jedes mal den Abzug durchziehen, um zu schießen.

Ich habe vier volle Magazine. Eins davon habe ich mit Klebeband am Gewehr angebracht, wie ich das in dem Buch gesehen habe, das ich per Post bestellt hatte. Die beiden übrigen habe ich in meinen Gürtel gesteckt.

Ich weiß nicht, wer das mir und Darla angetan hat. Aber nach dem heutigen Tag wird das keine Rolle mehr spielen. Ich werde alles in Ordnung bringen, und dann wird es ihnen leid tun. Sie werden niemals wissen, warum. Ich weiß, was ich zu tun habe, wenn ich fertig bin.

Und wenn sie hierher kommen, um es meiner Mutter zu sagen, dann werden sie sehen, wo ich angefangen habe.


© 1999 Andrew Vachss. All rights reserved.

Diese Erzählung ist in englischer Sprache in Everybody Pays von Andrew Vachss erschienen.

Deutsche Übersetzung T.K. und Andreas Huettl 


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