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The Official Website of Andrew Vachss

 

Die Hunde von Andrew Vachss

Sheba

Ein Auszug aus dem Buch "Merkt Euch Ihre Namen!"

von Alice Vachss

 

Ich hatte in einem Artikel gelesen, daß der Blindenverband Hunde zur Adoption freigab, und zwar sowohl Jungtiere (liebevoll aufgezogen, aber nicht für den Einsatz als Blindenhunde geeignet) als auch sogenannte Veteranen, die ihren Dienst geleistet hatten und nun zehn Jahre alt waren und durch jüngere, gesündere Tiere ersetzt wurden. Ich wandte mich also an den Blindenverband und ließ mich auf die Warteliste setzen. Ich wollte einen Veteranen.

Man sagte mir, daß Veteranen selten abgegeben würden. Im allgemeinen bäte man die Blinden, die diese Hunde gehabt hätten, ihnen ein neues zu Hause zu suchen. Nur wenn das nicht gelang, nahm der Verband die Hunde zurück. Ich war bereit, zu warten. Ein paar Monate vergingen.

Eine Woche vor Weihnachten rief der Blindenverband an. Man habe jetzt eine Veteranin, einen Schäferhundmischling, ob ich das Tier haben wolle. Ich sagte ja. Am Heiligen Abend fuhr ich raus nach New Jersey.

Als ich Sheba zum erstenmal sah, war sie eine ziemlich klägliche Töle. Sie kam angetrottet wie eine alte, müde Wölfin mit glanzlosem Fell und blinzelte mich durch weiße Wimpern mit gleichgültigen, vom grauen Star getrübten Augen an. Ein anderer Hund bellte sie an. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und verkroch sich unter dem Tisch. Man gab mir die Leine, und ich ging mit ihr spazieren. Sie wartete ab, was ich von ihr wollte.

Auf dem Rückweg standen wir lange im Stau. Die Hündin reagierte nicht. Sie schlief so reglos auf dem Rücksitz, daß ich mich alle paar Minuten umdrehte, um zu sehen, ob sie noch am Leben war. Ich dachte, bei mir zu Hause würde Sheba munterer werden, aber das war ein Irrtum. Mein Wohnzimmer wurde damals gerade renoviert, und Sheba ließ sich sofort auf ein paar alten Vorhängen nieder, die in der Ecke lagen. Sie sah so unglücklich, so niedergeschlagen aus, daß ich ihr ein paar Scheiben Roastbeef aus dem Kühlschrank holte. In dem Augenblick gab sie ihre ersten Lebenszeichen von sich. Sie fraß, was ich ihr hinhielt, schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, und seufzte wohlwollend, als ob ihr dämmerte, daß sie es vielleicht gar nicht so schlecht getroffen hatte.

Ich ging mit ihr in den Garten und warf einen Ball. Sie rannte hin, schnupperte, und sah mich enttäuscht an. Das Ding war kein Fressen.

Ich hatte die Weihnachtswoche über frei und nutzte die Zeit, um Sheba wieder zum Leben zu erwecken. Sie wollte nur fressen, schlafen und gestreichelt werden. Ich tat ihr den Gefallen. Ich sah die veterinärmedizinischen Befunde durch, die mir der Blindenverband mitgegeben hatte. Sheba war die letzten sechs Monate an der Kette gehalten worden. Warum, wollte mir keiner sagen, und auch sonst war außer den Befunden nichts über sie zu erfahren. Es sah ganz so aus, als wäre ihr der lebenslange Dienst als Blindenhund sehr schäbig vergolten worden. Höchste Zeit also für eine zweite Karriere.

Nach Neujahr nahm ich Sheba mit in die Sonderabteilung. Als wir am ersten Tag zur Arbeit gingen, waren unterwegs überall vereiste Pfützen. Sheba schob mich ständig beiseite. Ich durfte nicht in die Pfützen treten.

Sheba hatte mich bereits als ihren Menschen adoptiert, also ließ ich sie nicht im Spielzimmer, sondern nahm sie mit in mein Büro. Sie suchte sich ein Eckchen und legte sich schlafen, eine friedliche, stille Gestalt. Eine Angestellte, die etwas von mir wollte, trat versehentlich auf sie. (Dies war, wie sich bald herausstellen sollte, das einzige Problem bei Sheba: sie war so ruhig, daß oft jemand auf sie trat.) Die Sozialarbeiterin rannte über die Straße und kaufte ihr ein paar Leckerbissen. Damit konnte Sheba leben. Für einen anständigen Imbiß ließ sie sich gern einmal treten.

Am ersten Tage machte ich Sheba mit meinen Mitarbeitern bekannt und stromerte ein bißchen in der Abteilung herum. Das war ganz schön anstrengend für die alte Lady. Sie war froh, als wir nach Hause kamen. Und neugierig, was es zum Abendbrot gab.

Am nächsten Morgen hatte sie schon Routine. Sie hatte sich den Weg zur Arbeit gemerkt. Wenn ich nicht unbedingt dorthin wollte, bitte, dann würde sie mich eben hinführen. Sie war sauer, daß ich stehen blieb, bis die Ampel auf Grün umsprang, und nicht einfach losrannte, wenn der Verkehr einen Moment lang weniger wurde. Sie lief vor mir her, als wollte sie sagen: "Aus dem Weg, Leute - hinter kommt jemand, der sehr wichtig ist."

Am zweiten Tag sagte ich den Staatsanwälten, sie könnten ruhig Kinder in mein Büro bringen und ihnen Sheba zeigen. Die Kinder, die daheim selbst Hunde hatten, schlossen schneller Freundschaft mit Sheba als die anderen, aber eigentlich kamen alle bald mit ihr klar. Sie gingen zu ihr, und wenn Sheba einfach still dalag, streichelten sie vorsichtig den Kopf. Sheba schenkte ihnen einen würdevollen Blick. Es dauerte gar nicht lange, und die Kinder erzählten ihr, was sie erlebt hatten. Sie war eine gute Zuhörerin.

Außerdem war Sheba eine ausgezeichnete Diagnostikerin. Die meisten mißbrauchten Kinder, die sie kennenlernte, waren zwar ver-, aber nicht gestört. Mitunter hatten wir Kinder, denen Sheba nicht über den Weg traute. Dann trottete sie zu mir, setzte sich neben meinen Stuhl und beobachtete. Jedesmal, wenn der Instinkt ihr sagte, daß sie mich vor einem Kind beschützen mußte, zeigte sich später, daß dieses Kind dringend eine Psychotherapie brauchte.

Als Sheba zum ersten mal richtig aggressiv wurde, stellte ich fest, daß ihre diagnostischen Fähigkeiten nicht auf Kinder beschränkt waren. Ein Fremder hatte mich auf der Straße angesprochen und nach Sheba gefragt. Das kam oft vor. Ich erklärte ihm, wie ich es immer zu tun pflegte, daß sie eine Blindenhündin im Ruhestand war. Der Mann grinste anzüglich. "Solche Hunde werden verdammt hart abgerichtet, was?" fragte er. Es war offensichtlich, daß ihm diese Vorstellung Vergnügen machte, und ebenso offensichtlich war es, daß Sheba dem Kerl mit Vergnügen sämtliche Knochen gebrochen hätte. Es hat mich einige Überwindung gekostet, ihr das auszureden.

Am Anfang (bevor Sheba zu viele Fans hatte und sich das einfach nicht mehr machen ließ) stand meine Bürotür den ganzen Tag offen. Sheba ging nirgendwohin. Leute kamen vorbei, sahen sie und stutzten. Ein Hund in einem Dienstzimmer der Bezirksstaatsanwaltschaft war etwas unerwartet. Immer wieder wurde ich gefragt, ob Sheba ausgestopft sei. Sie war nie gekränkt. Solchen Unsinn verschlief sie einfach.

Ursprünglich hatte ich den ehemaligen Blindenhund ausschließlich den Kindern zuliebe gewollt, die in die Spezialabteilung kamen. Dass Erwachsene Sheba brauchten, war mir nicht in den Sinn gekommen. Die vielen verstörten Menschen, die zu mir kamen, merkten schnell, daß Sheba wunderbar trösten konnte, wenn jemand das brauchte. Von dem Tier ging eine solche Ruhe, eine so sanfte Gelassenheit aus, daß diese Menschen sich gleich etwas wohler fühlten. Von den meisten bettelte sie sich nicht einmal Leckerbissen, obwohl sie durchaus zu verstehen gab, daß sie Dankbarkeit zu schätzen wußte. Ihr Vorrat an Leckereien wuchs so schnell, daß sie gar nicht hinterherkam.

Sheba wurde sogar auf Video aufgenommen. Ein kleines Mädchen, das vor laufender Kamera aussagen sollte, bestand darauf. Sie wollte nur reden, wenn Sheba bei ihr war. Das Team hatte den Raum entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zur Videoaufzeichnung von Zeugenaussagen für die Anklagejury hergerichtet. Wir öffneten die Verbindungstür zwischen Videoraum und meinem Büro, und Sheba setzte sich so, daß die Kleine sie sehen konnte. Sheba gab ihr die Sicherheit, die sie brauchte, um schildern zu können, was man ihr angetan hatte. Andere Kinder kamen auf den denselben Gedanken. Sheba wurde ein Blindenhund ganz anderer Art, sie führte die Kinder durch die Finsternis, die manchmal noch schrecklicher war als Blindheit.


FÜR SHEBA

Streiterin wider die Blindheit
bis ihr die letzte Schlacht die Augen schloß.

Wenn Liebe mit dem Tod stürbe,
wär dies Leben nicht so schwer.

(Andrew Vachss 1991)



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