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Das Urteil in Sachen Michael Jackson

- weder ein Schock,  noch Bewunderung gebietend

Von Andrew Vachss

Ursprünglich veröffentlicht in der Ausgabe der New York Times vom 15. Juni 2005


Ein Prozess ist keine Suche nach der Wahrheit. Er ist ein Wettstreit, und häufig einer, der keine Gewinner hervorbringt. In bestimmten Fällen – wie im Falle der Ermordung von Emmett Till - hat ein Prozess einen solch abstoßenden Ausgang, dass er unsere individuelle und kollektive Selbstbetrachtung erschüttert. Andere Prozesse kosten uns viel, lehren uns jedoch nichts. Raten Sie, zu welcher Kategorie das Urteil im Fall Michael Jackson gehört?

Angesichts dieses Urteil sind die frommen Wellen der Empörung in gleichem Maße verfehlt wie das Urteil selbst  vorhersehbar war. Entgegen überreiztem Gehabe stand nicht die "Pädophilie" vor Gericht, sondern ein Prominenter. Bedeutet das, dass eine Begehung der im Jackson-Prozess unterstellten sexuellen Handlungen durch eine normale Person für diese zu jenen endlosen Jahren der Inhaftierung geführt hätte, an die wir während der gesamten Verfahrens ständig erinnert wurden? Nein. Die Wahrheit ist, dass ein sich schuldig bekennender Angeklagter wahrscheinlich ohne größere Wellen zu schlagen im Rachen von Bewährung und Behandlung verschwunden wäre, um später als ein (unter Umständen) eingetragener und (vermeintlich) resozialisierter ehemaliger Straftäter wieder daraus hervorzutauchen. Bis zum nächsten Mal.

Fragen Sie einen beliebigen erfahrenen Strafverteidiger: die wahren Risiken bestehen für eine angeklagte Person, die unschuldig ist. Einem schuldigen Angeklagten stehen weitaus mehr Optionen zur Verfügung.

Sicher, es ist mehr als einfach, der Bezirksstaatsanwaltschaft des Santa Barbara Countys die Schuld zuzuschieben und umso schwerer, sich ein leichteres Angriffsziel vorzustellen. Doch ein gelassener Blick auf die mutmaßlichen Beweggründe für den Freispruch wird nahelegen, dass die Jury Mr. Jacksons Ankläger wohl als Opfer gesehen hat, jedoch keine Entscheidung über die Identität des wahren Täters treffen konnte.

Ganz gleich, was die Experten verkünden, dieser Prozess war kein „Schwur-Wettbewerb“, keins der klassischen „er hat gesagt – sie hat gesagt“-Szenarien. Die Jury hat die Aussage des Anklägers, nicht aber die des Angeklagten gehört. Hätte der Staatsanwalt nur den Ankläger aufgeboten, so wäre das Urteil in der Tat vielleicht anders ausgefallen. Die Entscheidung der Anklage jedoch, die Mutter des Anklägers zu präsentieren - und sich am Schluss der Beweisführung sogar für sie zu verbürgen - war das Totenkopfetikett auf dem, was die Jury schlucken sollte.

Die Geschworenen glaubten möglicherweise, dass ein Kind von Michael Jackson sexuell missbraucht worden war. Aber sie waren mit Sicherheit davon überzeugt, dass die Mutter dieses Kindes eine professionelle Betrügerin, eine Eidbrecherin und Schwindlerin war, (sogar die Anklage räumte ein, dass sie eine Sozialhilfebetrügerin war.) Und es ist ebenso sicher im Bereich des Möglichen, dass die Geschworenen sie als etwas viel Schlimmeres betrachteten: als eine Mutter, die ihr eigenes Kind an eine potentiell gefährliche Person verschacherte, in der Hoffnung auf ein Schweigegeld in Millionenhöhe.

Wie viele der Geschworenen wunderten sich darüber, warum diese Mutter nicht zumindest wegen grober Vernachlässigung angeklagt wurde? Ging es denn in diesem Fall nicht angeblich voll und ganz darum, dass die Staatsanwaltschaft ein Kind beschützte?

Was auch immer Michael Jackson dem Ankläger angetan haben mag oder auch nicht, er hat nicht im Zeugenstand gelogen. Einige Jurys nehmen solche Dinge sehr persönlich. Was auch immer Michael Jackson getan haben mag, die Jury wusste, dass er nicht eine Skimaske tragend aus dem Heck eines Kleinbusses gesprungen war und ein Opfer entführt hatte. Das Kind wurde ihm geliefert. Was auch immer Michael Jackson getan haben mag, er hat sich nicht verstellt. Seine herausragendste öffentliche Rolle ist nicht die eines Musikers, (Los, nennen Sie seine letzte Hit-Single! Extra-Punkte für deren Jahrzehnt.) Vielmehr kennt man ihn als exzentrischen, verschlossenen, super-privilegierten Menschen der denkt, sein Bett mit kleinen Jungs zu teilen sei etwas, worauf er einen Anspruch hat.

Michael Jackson hat einen weiteren Ruf. Es ist eine verbürgte Tatsache, dass er viele Millionen Dollar gezahlt hat, um Kindesmissbrauchs-Vorwürfe abzuwehren. Die Jury wusste all dies. Hat das die Geschworenen davon überzeugt, dass Michael Jackson in diesem Fall umso wahrscheinlicher ein Verbrechen gegen den Ankläger begangen haben musste? Oder dass er eher das Ziel einer Erpresserin war, die ihr eigenes Kind als Köder benutzte?

Was also haben wir gelernt? Dem amerikanischen Recht ist das "Prinzip der sauberen Hände" zu eigen: Man kann nicht eine Bank überfallen und anschließend seinen Komplizen verklagen, wenn der einen um den eigenen Anteil betrügt. Dieses Prinzip findet in Zivil-, nicht aber in Strafverfahren Anwendung. Doch möglicherweise wurden wir gerade Zeuge der Geburt einer neuen Art der Anklageaufhebung durch eine Jury, eine, die nicht nur nach unschuldigen Opfern verlangt, sondern auch nach unschuldigen Motiven, die zu einem gerichtlichen Verfahren führen.

Der Richter hat die Jury davor gewarnt, sich von der Berichterstattung über den Fall beeinflussen zu lassen. Aber kann irgendein Richter den überwältigenden Einfluss von Fernsehformaten wie "Law and Order" und "C.S.I." mit ihrer Darstellung „fiktionalisierter Tatsachen“ aus den Gedanken moderner Geschworener löschen? Wie viele der Geschworenen, die der (irrigen) Vorstellung unterliegen, dass es "immer" forensisches Beweismaterial gibt, werden nicken, wenn ein Verteidiger herausfordernd fragt: "Wo ist die DNA?". Wie viele werden deren Nichtvorhandensein der Anklage vorwerfen?

Der Prozess gegen Michael Jackson war ein Melodram mit einem schlechten Drehbuch, das umso stumpfsinniger dadurch wurde, dass wir so leicht das Ende erraten konnten.

In den Monaten, seit der Anklageerhebung habe ich Leute erlebt, die große Qualen bei der Vorstellung durchlitten, dass Michael Jackson "ungeschoren davonkommen" könnte. Ich fragte diese Leute stets, welche anderen möglichen Fehlurteile in Vergangenheit und Gegenwart sie beunruhigten. Ich fragte sie, ob sie wussten, dass das Strafmaß für Kindesmissbrauch in vielen Bundesstaaten, einschließlich der Staaten New York und Kalifornien, ganz erheblich geringer ist, wenn man sein eigenes Kind missbraucht und nicht eins, mit dem man nicht verwandt ist. Ich fragte jeden von ihnen, ob dieses Inzest-Schlupfloch ihre Entrüstung ebenso hervorrufe; ob sie denn bereit wären, etwas zu tun, um solche Gesetze zu ändern. Keiner von Ihnen hat geantwortet.

Tun wir nicht so, als ob das fanatische Interesse am Fall Michael Jackson eine neue Welle der Sorge um den Schutz von Kindern in dieser Welt signalisiert. Sicher, Produzenten leeren ihre Rolodexe, und professionelle Prediger überfluten den Äther. Ja, die "Missbrauch mit dem Missbrauch"-Horde kräht bereits, dass dieser Fall die Stichhaltigkeit ihrer Behauptung beweise, wonach die meisten solcher Strafverfolgungen eine Hexenjagd seien. Gleichzeitig beklagt die Truppe jener, die behaupten, dass Kinder hinsichtlich eines sexuellen Missbrauchs niemals lügen, wie sehr Macht und Privilegien Vorrang vor der Gerechtigkeit haben. Nicht ein einziges Wort davon zeigt uns irgendeine Veränderung auf. Das einzige, was das Urteil in Sachen Michael Jackson bewirkt hat, ist, dass wir uns nun nicht die Gefängnisvergewaltigungs-"Witze" anhören müssen, die einer Verurteilung unausweichlich gefolgt wären.

Was bedeutet das Urteil im Fall Michael Jackson für die Zukunft des Kinderschutzes in Amerika? Nichts. Es unterstreicht nur eine grundlegende, anhaltend geltende Wahrheit: wenn es um sexuelle Kindesmisshandlung geht, hat sich von der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit bis hin zur Strafverfolgung nichts verändert. Überhaupt nichts.

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Andrew Vachss, ein Rechtsanwalt, der seine Tätigkeit auf die Vertretung ausschließlich von Kindern und Jugendlichen begrenzt hat, ist unter anderem Autor des unlängst erschienenen Romans Two Trains Running.

(mit freundlicher Genehmigung der New York Times)

 



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